Interview mit Jerry Elliot: Wenn Du traurig bist, kannst Du heulen! shutterstock.com/Andrey Ushakov

Interview mit Jerry Elliot: Wenn Du traurig bist, kannst Du heulen!

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Ist Dein Kopf voll, schlägst Du in den Sandsack, danach ist Dein Kopf wieder frei - auch das tut gut. Der ehemalige Profiboxer und Box-Trainer Jerry Elliott berichtet über die Kraft und das neue Image des Boxens.

citysports.de: Du führst ein eigenes Box-Studio in Köln. Auffällig ist, dass Du besonders viel Wert auf die helle, freundliche und familiäre Atmosphäre legst.
Jerry Eliott: Die neue Generation des Boxens muss so sein. Die verruchte Zeit ist vorbei. Boxstudios sind sauber und sehr gut ausgestattet. Die Leute kommen, weil sie sich in dem sauberen, familiären Ambiente wohlfühlen.

Den familiäre Atmosphäre hast Du als 12. Kind leider nicht erlebt, sondern bist vom Vater nicht akzeptiert worden, in jungen Jahren aus West-Nigeria geflüchtet, in mehreren Ländern untergetaucht und in Deutschland angekommen. Du hast Dich wahrlich durchs Leben geboxt. Was bedeutet für Dich die Sportart Boxen?
Boxen hat mir mein Leben gerettet. Obwohl ich in Amsterdam obdachlos war, fand ich eine Bleibe im Boxing-Gym, in der ein Coach mich einige Wochen auf einen Box-Wettkampf vorbereitete. Das war der Beginn meines neuen Lebens. Boxen hat mir immer Kraft gegeben.

Es scheint zu jedem Boxer eine außergewöhnliche Lebensgeschichte oder ein einschneidendes Erlebnis zu gehören. Du hast mit Boxen angefangen, weil Du u.a. von anderen Kindern gehänselt wurdest. Mike Tyson fing mit Boxen an, als er miterleben musste, wie seine Tauben getötet worden sind. Ist das typisch für Boxer?
Ja und Nein. Es gibt Milliarden Menschen, nur ein Bruchteil betreibt Boxen. Sicherlich hilft Boxen, die eigenen Schmerzen zu vergessen, sie zu verarbeiten. Viele Boxer haben eine schwere Vergangenheit. Aber, ob die Person Boxer ist oder nicht, jeder hat seine eigene Lebensgeschichte, auch Kinder.

Besonders für die Kinder setzt Du Dich ein, das ist auch typisch für Profiboxer. Du engagierst Dich speziell im Bereich Boxen gegen Gewalt an den Schulen – ist das nicht ein Widerspruch?
Wer einmal in einen Boxsandsack geschlagen hat, weiß dass Boxen die beste Medizin gegen Gewalt ist. Gegen einen Sandsack zu schlagen ist anstrengend. Am Ende ist man total fertig. Du wirst Deine Aggressionen los und hast keine Lust mehr Dich zu prügeln. Zudem merkst Du, wie schmerzhaft es ist, am Sandsack zu trainieren und kannst Deine eigenen Kräfte besser einschätzen. Wenn Du traurig bist, kannst Du heulen. Das tut gut. Ist Dein Kopf voll, schlägst Du in den Sandsack, danach ist Dein Kopf wieder frei.

Für mich als Langstreckenläuferin ist das schwer nachzuvollziehen, 60 Sekunden Sandsacktraining - das klingt wenig.
Das ist sehr lang. Das ist eine Minute. Vergleichbar mit einem 400m Sprint. Trotzdem geht es Dir dann nach dem Duschen viel besser.

Ist das der einzige Reiz, Boxen, um sich auszupowern?
Der ganze Körper wird trainiert, Bauch, Beine, Po, Rücken, der Kopf, die Konzentration. Du trainierst einfach alles. Danach fühlst Du Dich in Deinem Körper wohl. Boxen kann man früh erlernen und später als Beruf ausüben wie Amateur- oder Profiboxer, Trainer oder Lehrer für Selbstverteidigung. Boxen ist vielseitig.

Und somit auch die Ansprüche an einem Boxer. Was macht einen guten Boxer aus?
Ein guter Boxer muss seinen Gegner im Ring gut kennen und sich auf ihn einstellen können. Natürlich ist die Basis eine gute Fitness, denn wer müde ist, kann sich im Ring nicht mehr entscheiden, wann er in die Defensive geht und wann er angreift. Ein Profi trainiert 6 bis 8 Stunden am Tag. Ein Boxer muss menschlich und fair sein. Boxen hat Regeln, die man einhalten muss.

Du bist bereits als Kind mit einem selbstgebastelten Boxsack in die Sportart gestartet. Wenn Du früh anfangen sagst, was meinst Du damit?
Mit der Kampfsportart Boxen am besten mit 10 Jahren, in dem Alter ist man besonders lern- und konzentrationsfähig.

Einige Boxkursanbieter haben Kurse ab 6 Jahren im Programm.
Klar kann man ein Kind auch mit 6 Jahren zum Kinderboxen schicken. Das Kind muss aber Lust und Interesse haben. Zudem sollte das Training speziell auf Kinder zugeschnitten sein. Besser ist es für Kinder in dem Alter in einem guten Studio mit Fitnessboxen zu starten.

Du sprachst gerade zwei Themen an: Das Training und das Studio.
Trainer, Umgebung, Leute und Studio – das ist wichtig. Ein guter Trainer muss flexibel sein, öfter was Neues einbauen, auf seine Leute eingehen, sie individuell korrigieren. Meine Trainer habe ich alle selbst geschult. Der Trainer ist die Motivation für die Boxer weiterzumachen.

Und was ist besser: Einzel-Boxtraining oder in einer Gruppe trainieren?
Wenn Du auf ein Studio triffst, wo viele in einer Gruppe trainieren, ist das nicht zu empfehlen. Der Trainer muss auf jeden individuell eingehen können. Oder die Gruppen müssen ungefähr gleich sein vom Alter, vom Leistungsstand. Mein ältester Teilnehmer mit 77 Jahren kommt allein zu mir, um zu trainieren.

Einen Moment. 77 Jahre, habe ich das richtig verstanden?
Jeder, der laufen kann, kann auch Fitnessboxen machen.

Und Boxen?
Boxen ist ein anstrengender Sport. Die beste Boxzeit ist zwischen 25 und 35 Jahren. Sicherlich muss jeder selbst entscheiden, wann er aufhört. Wir sind Menschen, viele wissen nicht, wann man aufhören soll.

Das erinnert mich an manche Profi-Comebacks im Boxring. Boxen ist doch oft auf der Stelle hüpfen und draufhauen.
Boxen ist viel mehr als das. Früher war Boxen eher Gewalt. Die Klitschkos mit Doktortitel, Maske, der Gentleman, haben viel dazu beigetragen, dass der Boxsport in der Gesellschaft akzeptiert wird, dass Boxen auch viel mit Fitness, Taktik und Regeln zu tun hat. Früher hat man sich nicht getraut, zu erzählen, dass man boxt. Jetzt kommen immer mehr und wollen Boxen lernen. In Köln gebe ich neuerdings auch Box-Workshops für Führungskräfte aus Unternehmen. Die gute Zeit für die Sportart Boxen kommt.

Vielen Dank für das Gespräch.

Interview: citysports.de, Anne Nyhuis

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