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Spielerische Existenzzerstörung – Glücksspiel und seine Schatten

  • Maria Poursaiadi
Um die 25 Milliarden Euro werden jährlich allein in Deutschland mit Glücksspielen und Sportwetten umgesetzt. Dabei kann das Spiel um Geld ein immenses Suchtpotential entwickeln. Wir sprachen mit Diplom Psychologen Tobias Hayer über die Glücksspielsucht und wie gefährlich diese sein kann.

Am 8. September 2010 kippte der Europäische Gerichtshof das staatliche Glücksspielmonopol. Zwar seien solche Monopole grundsätzlich zur Suchtbekämpfung zulässig, jedoch verfolgt Deutschland nach Meinung des EuGH dieses Ziel nicht konsequent genug. Kein Wunder, denn in Deutschland wird das Glücksspiel auf das stärkste beworben: Ob von Reklametafeln, im Fernsehen oder von Bannern am Computerbildschirm, überall wird zu einer Pokerrunde oder anderen Spielen mit Geldeinsatz eingeladen. Ein weiteres Problem stellen die vielen privaten Spielautomaten in Spielhallen und Gaststätten dar. Mit enormen Konsequenzen.

300.000 Menschen zeigen in Deutschland jährlich ein krankhaftes Suchtverhalten, zwei Drittel von ihnen hängen vor einem Glücksspielautomaten. Diese Geldspielautomaten sind im staatlichen Glücksspielvertrag jedoch nicht einbezogen, weswegen auch keine Kontrolle und damit auch kein Schutz erfolgt.

netzathleten: Herr Hayer, Sie untersuchen seit geraumer Zeit an der Universität Bremen die Glücksspiel- und Wettsucht. Welche Untersuchungen haben Sie zu diesem Thema angestellt?

Tobias Hayer: Hier an der Universität Bremen wurden unter Leitung von Prof. Dr. Gerhard Meyer bereits zahlreiche Forschungsprojekte zu den Entstehungsbedingungen und den Folgen der Glücksspielsucht durchgeführt. Unter meiner Beteiligung fanden u.a. die Untersuchung des Suchtpotenzials von Lotterien bzw. Sportwetten und die Evaluation ausgewählter Maßnahmen des Spielerschutzes, wie der Spielsperre, statt. Derzeit ermitteln wir z.B., ob sich verschiedene Subtypen von Problemspielern voneinander abgrenzen lassen. Zudem läuft aktuell ein Forschungsprojekt zu der Frage, ob Poker eher ein Glücks- oder ein Geschicklichkeitsspiel ist.

netzathleten: Was genau versteht der Psychologe unter einer Glücksspielsucht?
Tobias Hayer: Zunächst einmal bleibt festzuhalten, dass es sich bei der Glücksspielsucht um eine wissenschaftlich und sozialrechtlich anerkannte Krankheit handelt. Im Zentrum steht der Verlust der Handlungskontrolle: Die Betroffenen verspüren ein unwiderstehliches Verlangen nach dem Glücksspiel. Versuche, das Spielverhalten einzuschränken oder ganz aufzugeben, bleiben ohne Erfolg. Mit der Zeit dominiert das Glücksspiel die Lebensführung, es kommt zunehmend zu einer Vernachlässigung anderer Aktivitäten und Verpflichtungen. Trotz finanzieller und persönlicher Folgeschäden wird weitergezockt und Verlusten hinterhergejagt. Weitere Symptome dieses Störungsbildes umfassen entzugsähnliche Erscheinungen, beschaffungsdelinquentes Verhalten und einschneidende Persönlichkeitsveränderungen.

netzathleten: Welche Menschen sind denn von der Glücksspielsucht betroffen?
Tobias Hayer: Die Entstehung einer Glücksspielsucht hängt von verschiedenen Faktoren ab und verläuft zudem sehr individuell. Häufig betroffen sind Männer, Jugendliche bzw. junge Erwachsene und Personen mit Migrationshintergrund. Gewisse Eigenschaften auf Seiten des Individuums, wie eine hohe Impulsivität, eine geringe Toleranz gegenüber Langeweile und eine mangelhafte Stressbewältigung, erhöhen das Risiko für die Entwicklung glücksspielbezogener Probleme.
Übrigens scheinen auch einige Profisportler in exzessiver Weise zu zocken: So hat Tony Adams, ein ehemaliger englischer Fußballnationalspieler, in Folge eigener Erfahrungen mit süchtigem Verhalten die „Sporting Chance Clinic“ (www.sportingchanceclinic.com) gegründet. Diese Einrichtung unterstützt gezielt Sportler bei der Bekämpfung ihrer Probleme im Umgang mit Drogen sowie dem Glücksspiel.


netzathleten: Wie entsteht eine Glücksspielsucht und besteht für den Betroffenen die Möglichkeit, seine Sucht zu erkennen?
Tobias Hayer: Die Entstehung einer Glücksspielsucht ist ein schleichender Prozess. Zu Beginn einer Spielerkarriere stehen der Spaß, das Vergnügen und der kurzzeitige Nervenkitzel im Vordergrund. Allerdings können gerade anfängliche Gewinnerlebnisse prägend sein und zum Weiterspielen animieren. Wie in anderen Suchtbereichen gilt auch ein früher Erstkontakt, d.h. eine erste Spielteilnahme in jungen Jahren, als Risikofaktor für nachfolgende Fehlentwicklungen. Mit zunehmender Zeit erhöhen sich Spieldauer und Spielhäufigkeit, die Verluste überwiegen jetzt, und irrationale Gedanken werden verstärkt zur Rechtfertigung des Spielverhaltens herangezogen. Spätestens dann sollten sich Betroffene fragen, ob sie ihr Spielverhalten noch unter Kontrolle haben. Stellt sich ein schlechtes Gewissen ein, weil (wieder einmal) mehr Geld für das Glücksspiel ausgegeben wurde als eigentlich vorgesehen war oder weil nahe Bezugspersonen wegen des Ausmaßes der Glücksspielaktivitäten angelogen wurden, ist auf jeden Fall die Reißleine zu ziehen.

netzathleten: Wie weit gehen Menschen, die glücksspielsüchtig sind? Sind die Geschichten wahr, dass jemand Heim, Auto und Familie verzockt?
Tobias Hayer: Ein zentrales Merkmal einer fortgeschrittenen Glücksspielsucht ist, dass moralische Hemmschwellen sinken und alles erdenklich Mögliche zur Geldbeschaffung getan wird, um die weitere Teilnahme am Glücksspiel zu sichern. Da die Glücksspielsucht naturgemäß eine teure Suchterkrankung verkörpert, verwundert es kaum, dass die finanziellen Mittel der Betroffenen irgendwann einmal ausgeschöpft sind und illegale Wege der Geldbeschaffung beschritten werden. Dieses reicht von dem Schlachten des Sparschweins der eigenen Kinder, über Delikte wie Veruntreuung oder Diebstahl bis hin zur Unterschlagung von Beträgen in Millionenhöhe. Nicht selten ruinieren Glücksspielsüchtige sich selbst, aber auch ihre Familie auf psychosozialer und finanzieller Ebene; Strafverfahren, Privatinsolvenzen und Suizidversuche inklusive.

netzathleten: Was geht im Kopf eines Glücksspielsüchtigen vor, wenn er wettet oder spielt? Kann man Glücksspielsucht hier beispielsweise einer Drogensucht gleichstellen, bei dem der Drogenkonsum kurzzeitig befriedigt?
Tobias Hayer: Es stimmt, dass Glücksspielsüchtige ähnliche Verhaltensweisen wie Alkoholiker oder Drogensüchtige zeigen und dass sich auch ihre Erlebensweisen durchaus ähneln. So berichten pathologische Spieler von Adrenalinschüben, Kicks, massiver Erregung oder tranceartigen Zuständen während einer Glücksspielteilnahme. Auf neurowissenschaftlicher Ebene liefert vor allem das Belohnungssystem im Gehirn einen wichtigen Beitrag zur Erklärung süchtigen Verhaltens. Suchtmittel wie Alkohol oder illegale Drogen aber auch auf Belohnung ausgerichtete Verhaltensweisen, wie eben eine Glücksspielbeteiligung, aktivieren bestimmte neuronale Netzwerke. Diese Systeme stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit Lustempfinden und anderen angenehmen Erlebniszuständen.

netzathleten: Wie bekommt man die Glücksspielsucht unter Kontrolle? Gibt es Therapien und wie erfolgsversprechend sind diese?
Tobias Hayer: In den letzten Jahren ist das Hilfesystem in Deutschland für pathologische Spieler und Angehörige erfreulicherweise ausgebaut und ausdifferenziert worden. Es stehen - je nach Bedarf - verschiedene Anlaufstellen zur Verfügung. Hierzu gehören niedrigschwellige Hilfen wie Online-Beratung/Online-Chats oder Telefonhotlines, Selbsthilfegruppen, Einrichtungen der ambulanten Suchtberatung und Fachkliniken mit stationären Behandlungsangeboten. Grundsätzlich gilt: Je früher Betroffene professionelle Hilfeangebote in Anspruch nehmen, desto größer ist die Chance auf eine nachhaltige Verhaltensänderung. Verschiedene Forschungsstudien zur Wirksamkeit von (psychotherapeutischen) Interventionen geben Anlass zu vorsichtigem Optimismus. Ungefähr ein Drittel der Ratsuchenden lebt glücksspielabstinent, bei einem weiteren Drittel zeigen sich zumindest deutliche Verbesserungen.

netzathleten: Was halten Sie eigentlich von der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zum deutschen Glücksspielmonopol?
Tobias Hayer: Der Leitsatz des EuGH-Urteils vom 08.09.2010 besagt, dass mit dem im Rahmen der Organisation von Sportwetten und Lotterien errichteten staatlichen Monopol das Ziel der Bekämpfung der Suchtgefahren nicht in kohärenter Weise verfolgt wird. Einerseits wurde ein hohes Schutzniveau in den genannten Marktsegmenten etabliert; andererseits ist in den letzten Jahren eine deutliche Erhöhung der Spielanreize beim gewerblichen Automatenspiel zu beobachten. Genau dieses Marktsegment ist aber von den Schutzvorschriften des Glücksspielstaatsvertrages ausgeklammert, trotz hoher Suchtgefahren. Um diesem Schwachpunkt zu begegnen, bedarf es weiterführender Restriktionen im Bereich des gewerblichen Automatenspiels. Aus der Perspektive der Suchtprävention wären deutlich spürbare Eingriffe in die Spielstrukturen, wie eine Verlängerung der Spieldauer, eine restriktivere Deckelung der Einsatz-, Gewinn- und Verlustmöglichkeiten und der Abbau der Geldspielautomaten in gastronomischen Betrieben zielführend.

netzathleten: Die entscheidende Argumentation des Staates hinsichtlich des Glücksspiels in staatlicher Hand war aber immer die Bekämpfung der Glücksspielsucht. Finden Sie mit Blick auf das Verhalten der Bevölkerungen in den letzten Jahrzehnten, dass dies dem Staat gelungen ist?
Tobias Hayer: Ja und Nein. Die Einführung des Glücksspielstaatsvertrages in 2008 hat sicherlich zu einer generellen Stärkung des Spielerschutzes in Deutschland beigetragen. Abgesehen von punktuellem Nachbesserungsbedarf hat sich dieser Vertrag aus dem Blickwinkel der Suchtprävention im Großen und Ganzen bewährt. Für die Zukunft bleibt zu hoffen, dass die politischen Entscheidungsträger die Defizite der deutschen Glücksspielgesetzgebung zeitnah beheben und den Präventionsgedanken auch beim gewerblichen Automatenspiel mit Nachhaltigkeit verfolgen. Leider hat die Vergangenheit nicht nur in Deutschland immer wieder gezeigt, dass der Spielerschutz gegenüber wirtschaftlichen Interessen in den Hintergrund rückt.

netzathleten: Ist es überhaupt sinnvoll, Kontrollinstanzen einzuschalten, um den Bürger vor sich selbst zu beschützen?
Tobias Hayer: In meinen Augen ist es eine unabdingbare Aufgabe des Staates, optimale Rahmenbedingungen für einen verantwortungsbewussten Umgang mit Suchtmitteln und Glücksspielen zu schaffen. Zahlreiche Argumente sprechen gegen eine Öffnung der Märkte bzw. eine freie Wettbewerbssituation. Neben den zahlreichen Manipulationsmöglichkeiten und der Notwendigkeit des Jugendschutzes soll vor allem an die massiven individuellen und sozialen Folgeschäden erinnert werden, die eine Glücksspielsucht mit sich bringt. Volkswirtschaftlich verursacht glücksspielsüchtiges Verhalten pro Jahr Kosten in Milliardenhöhe. Da zudem immer auch nahe Bezugspersonen unter der Suchterkrankung zu leiden haben, beantwortet sich die Frage nach dem Sinn von Kontrollinstanzen von selbst.

netzathleten: Was wären in Ihren Augen sinnvolle Maßnahmen, um Menschen vor einer Glücksspielsucht zu wahren?
Tobias Hayer: Voraussetzung für eine effektive Suchtbekämpfung ist ein kleiner, konsequent regulierter Glücksspielmarkt. Dabei wären Art und Zuschnitt der Glücksspielangebote genauso streng zu begrenzen wie die Werbung für Glücksspiele. Weitere Erfolg versprechende Strategien umfassen u.a. massenmediale Aufklärungskampagnen, ein funktionierendes Sperrsystem und die Entwicklung von schulbasierten Präventionsprogrammen mit Glücksspielbezug. Sinnvoll wäre es zudem, die Forschung zur Früherkennung problematischer Spielmuster voranzutreiben mit dem Ziel, gefährdete Personen möglichst rechtzeitig zu erkennen, aktiv anzusprechen und ihnen angemessene Hilfen zum Ausstieg zu unterbreiten.

netzathleten: Was raten Sie einem glücksspielsüchtigen Menschen?
Tobias Hayer: Eine ehrliche Bestandsaufannahme! Habe ich mein Spielverhalten noch unter Kontrolle oder mache ich mir und meinem Umfeld etwas vor? Es sollte immer folgender Leitsatz in Erinnerung gerufen werden: Je eher ich mir helfen lasse, desto besser sind die Erfolgsaussichten für die Zukunft.

netzathleten: Vielen Dank für das aufschlussreiche Gespräch.

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