Von Powerpaketen, Wagenburgen und geteilter Verantwortung FIFA -- Offizielles Logo der Frauen-Fußball-WM 2023 in Australien und Neuseeland
Vor der WM: Die DFB-Frauen unter der Lupe - Teil I

Von Powerpaketen, Wagenburgen und geteilter Verantwortung

  • Frank Schneller
Erfolg im Sport ist auch Kopfsache. Ohne mentale Skills geht es nicht. Ohne den nötigen Team-Spirit ebenso wenig. Das weiß auch die deutsche Fußball-Frauennationalmannschaft. Bei der WM im fernen Ozeanien will sie wie schon während der EM 2022 durch Zusammenhalt, Authentizität und Einsatzfreude begeistern. Ob man die DFB-Frauen mit den jüngst erfolgreichen U21-Handballern des DHB vergleichen kann, erklärt Anke Naefcke, ehemalige Leistungssportlerin und mittlerweile HR-Business-Coach, systemische Beraterin und Mentalcoach für junge Athletinnen und Athleten. Teil I des Interviews von Frank Schneller.
Die Handball-Junioren begeisterten unlängst bei der Heim-WM mit totaler Hingabe, Teamgeist und dem klaren Bekenntnis zu einem Ziel: Den WM-Titel. Der Zusammenhalt spielte letztlich auch die entscheidende Rolle – zugegeben: auch bei sportlicher Qualität – für den Erfolg. Das Finale war gleichzeitig der letzte gemeinsame Auftritt dieses Jahrgangs – so entstand auch eine Art Wagenburg-Mentalität. Wie effektiv kann so eine Wagenburg-Mentalität sein, welche Prozesse laufen da ab?

Anke Naefcke: Eine Wagenburg-Mentalität hat ja auch etwas damit zu tun, sich für den gemeinsamen Erfolg gegen etwas Destruktives oder Bedrohliches zu verbünden. Die Junioren haben das um das letzte gemeinsame Event wissend und die Chance, sich letztmalig in Ihrer Spielstärke als Gesamtpaket jahrelanger Jugendauswahltrainings und DHB-Lehrgängen zu zeigen, getan. Das hat auch was mit Abschied und ein bisschen Drama zu tun. Dem kann man resignierend oder leidend begegnen, oder ein Powerpaket daraus entwickeln, indem man sich selbst und andere für die Zeit bis zum Abschluss belohnt, bevor der neue Lebensabschnitt beginnt.

Und die DHB-Junioren …

… haben sich für das Powerpaket entschieden, das Medium Wagenburg in paradoxem Sinne verstärkend genutzt. Nicht verstecken und einigeln, sondern sich als Team mit den konstruktiven Stärken präsentieren - wenn nicht jetzt, dann mit diesem Team auch nie wieder – das ist ultimativ. Also raus mit den Kräften, den Fähigkeiten, dem Teamgeist, dem Vertrauen auf den Trainer, auf die Platte.

Diese Mentalität bewirkt einen emotionalen Schutzmechanismus auf das gesamte Mannschaftssystem. Die emotionale Angriffsfläche jedes einzelnen Spielers wird kleiner, keiner wird abgehängt. Mit dem klaren Bekenntnis zum Gewinn des WM-Titels war vorgegeben, dass nur der Vorwärtsgang getreten wird. Das befähigt die Spieler mental zur geordneten lösungsorientierten Umsetzung der Vorgaben des Trainers. Jeglicher Negativismus im Sinne von einem Rückwärtsgang schließt sich damit aus. Vielleicht hat die spielerische Kreativität etwas darunter gelitten, das geringere Übel bei einem Titelgewinn.

Ja, eine Wagenburg-Mentalität ist effektiv, ermöglicht die absolute Fokussierung auf das sportliche Ziel und erzeugt eine schützende, selbstwertsteigernde Teamkonstellation.

Anke Naefcke
Anke Naefcke, ehemalige Leistungssportlerin und mittlerweile HR-Business-Coach, systemische Beraterin und Mentalcoach für junge Athletinnen und Athleten

Können die DFB-Frauen eine ähnliche Teamwirkung erzielen? Was beobachten Sie bei der DFB-Auswahl?

Die DFB- Frauen könnten diese Art der Wagenburg-Mentalität auch für sich als Schutzraum und Motivationsbasis entwickeln. Aktuell hätte ich jedoch keine Idee, welche finale Bedingung den Effekt auslösen könnte. Das für die Wagenburg-Mentalität notwendige absolute Bedürfnis erkenne ich nicht. Ich sehe kein letztes Mal, ich höre keine absolut klare Zielvorgabe, definiert sind Abschnittsziele, ich sehe keine psychische Bedrängnis, aus der sich gelöst werden muss. Eine emotional dramatische Ausgangslage. Erkenne ich ebenfalls nicht.

Grundsätzlich halte ich es jedoch für möglich, dass sich im Laufe des Turnieres ein solches Konstrukt systematisch entwickeln kann. Beeinflusst von den Präsenzen der Spielerinnen auf dem Fußballfeld, der Präsenz und Rolle der Trainerin, je nach Erfolg oder Misserfolg. Auch die Art und Weise, wie die Medien und digitalen Plattformen ihre Berichterstattungen steuern, könnte initial die Entfaltung einer Wagenburg-Mentalität befördern und ein Signal auslösen.

Wie, glauben Sie, definieren sich die DFB-Frauen?

Spekulativ würde ich denken, dass die DFB-Frauen eher über die Spielfreude, über das, „lasst uns endlich loslaufen und Fußballspielen“ in ihren Erfolg kommen, sowie die „Endlich geht es los“-Mentalität. Nachdem monatelang mediale und sozialpolitische Wettkampfarenen wertvolle Präsenz, Haltungsbekundungen und Statements für den Frauenfußball erforderten, geht es zum WM-Auftakt nur noch um die sportlichen und spielerischen, ganz individuellen Fähigkeiten, jeder einzelnen Spielerin und um die Frage, wie sich diese fußballerischen Fähigkeiten synergetisch zum Spielgewinn des Teams ergänzen. Als ehemalige Handballerin weiß ich selbst nur zu gut, dass sich die positiven Energien und der Wille zum Sieg erst maximiert, wenn man den Ball vor dem ersten Spiel, vor dem Anpfiff in der Hand hat – oder eben am Fuß. Ich bin gespannt, wie das Team sich im ersten Spiel präsentiert.

Den DFB-Frauen fehlen einige Leistungsträgerinnen, eine Spielerin riss sich im letzten Testspiel das Kreuzband. Kann so ein Schock – sofern er rechtzeitig überwunden wurde – auch umgemünzt werden in noch mehr mannschaftliche Geschlossenheit, in den sogenannten ‚Jetzt erst recht‘-Spirit?

Der Schock kann lähmen, vor allem wenn es sich um eine Spielerin mit außerordentlichen spielerischen Alleinstellungsmerkmalen handelt. Mit Sicherheit löst das einen mentalen Knick im Teamgefüge aus. Aus einer solchen Minussymptomatik heraus können sich keine positiven Antreiber herauslösen. Dafür benötigt man ein neues Mannschaftskonzept und das sehr schnell.

Ist eine schnelle Auflösung der Schockstarre grundsätzlich möglich?

Ja. Mannschaftliche Geschlossenheit muss sich dann neu definieren. Durch die Übertragung von spielerischer Verantwortung auf geeignete Persönlichkeiten und Spielertypen aus dem Mannschaftsverbund. Es hängt meines Erachtens davon ab, wie hoch die Bereitschaft zu mehr Verantwortung ist und ob die Spielerinnen über die zusätzlichen Ressourcen verfügen, diese Verantwortung mit zu übernehmen.

fußball wm 2023
(pixabay.com/Christoffer Borg Mattisson)

Star fällt aus = Team rückt enger zusammen und wird noch besser? Diese Formel ist etwas naiv, oder?

Rational betrachtet denke ich nicht, dass der Ausfall von Leistungsträgerinnen zu mehr mannschaftlicher Geschlossenheit führt, wenn vor Turnierbeginn klar ist, dass diese Spielerin verletzungsbedingt ausfällt. Keine Spielerin kann zu 100 % ersetzt werden, da die Psyche und die fußballerische Qualität die Spielstärke beeinflussen. Diese Parameter kann man nicht auf einen anderen Menschen 1:1 übertragen.

Aber, die Kompetenzen einer einzelnen Person können zum Beispiel wie im Arbeitsalltag, immer auch vorübergehend systematisch ergänzt werden, durch Personen mit persönlichen und fachlichen Kompetenzen. Wie zum Beispiel bei einer Krankheitsvertretung. Das erfordert von allen Beteiligten mehr Einsatzbereitschaft, mehr Aufwand und bedarf einer komplexeren Sichtweise, um den Über- und Durchblick zu be- und erhalten. Dies wiederum bedarf mehr Abstimmung, mehr Transparenz und eine offene Kommunikationskultur. Das können Team und Trainer*in gerade im Mannschaftssport leisten. Verletzungsbedingte Ausfälle gibt es immer wieder und trotzdem blieben die Teams spielfähig und erfolgreich.

Aus der Erfordernis einer geteilten Verantwortlichkeit entsteht dann das tröstende, aber auch positiv verstärkende Gefühl. Die neue Teamkonstellation wird nicht durch die Schocksituation bestimmt, sondern durch das „Neue Wir“ in einem angepassten neuem Funktionsmodell. Dabei kann das „Wir müssen“, wenn es ein eigener, verinnerlichter Anspruch ist, motivationsfördernd wirken, weil es gewollt und erwünscht ist.

Kann so etwas den sportlichen Verlust aufwiegen?

Ja, absolut. Wir freuen uns doch auch, wenn wir aus dem Urlaub kommen und die Kollegen in der Zwischenzeit vertrauensvoll Verantwortung übernehmen haben und der Betrieb gut gelaufen ist. Das Vertrauen überträgt sich in das Team. Wenn die Mannschaft die Ressourcen ausschöpfen kann und die entsprechende Einstellung aufbringt, eine Lücke über die Verteilung von Verantwortung auf mehrere Schultern zu kompensieren, verfügt das Team über eine zusätzliche Stärke, die natürlich nochmal on top Kräfte freisetzen kann. Das Vertrauen in diese besonderen Fähigkeiten kann über das Trainerteam befördert werden, benötigt jedoch mehr individuelle Ansprache, Motivation und ein zusätzliches Konzept zur Stressbewältigung.

Business as un-usual?

In etwa. Der Ausfall der Leistungsträgerinnen ist für mich ein vorübergehender Ausnahmezustand, der Innovation und zusätzliche Initiativen erfordert, aber in keiner Weise das System Mannschaft lahmlegt. Zudem übernehmen auch verletzte Spielerinnen eine mentale und unterstützende Funktion. Wer in einer Mannschaft spielt, ist auch bei Verletzungspausen emotional mit auf dem Platz und freut sich, wenn das Team erfolgreich spielt und Verantwortung übernommen hat. Das spürt ein Team. Auch wenn man hinter dem Spielfeldrand steht – gewinnt oder verliert man gemeinsam mit dem Team. Das ist jeder Spielerin auf dem Spielfeld bewusst. Sie ist da, sie ist mit uns. Es bleibt ein wir mit Ihr – nicht ohne sie.

Den zweiten Teil des ausführlichen Interviews findet ihr hier: Vom Risiko medialer Präsenz und der Kraft des – wahren – Teamgeists

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