Route mit Schlüsselstellen – Michael Füchsles Weg vom Vollprofi ins Koma und zurück an den Fels Michael Füchsle

Route mit Schlüsselstellen – Michael Füchsles Weg vom Vollprofi ins Koma und zurück an den Fels

Schon von Kindesbeinen an war Michael Füchsle fasziniert. Von den Bergen, den Felsen, vom Klettern. Er wird Profikletterer – und fällt nach einem Darmdurchbruch ins Koma und landet im Rollstuhl. Inzwischen kann er seiner Passion wieder nachgehen. Eine Geschichte über Ehrgeiz, Motivation und unbändigen Willen.
Als es bei Michael Füchsle darum geht, auf eigenen Füßen zu stehen, kommt für ihn nur eines in Frage: Klettern. Seine Passion seit Kindheitstagen soll das sein, womit er sein Geld verdient, wodurch seine Unabhängigkeit und Freiheit gesichert wird. „Am Klettern hat mich schon immer fasziniert, dass man so  viel reisen kann, andere Länder sehen, neue Kulturen kennenlernen“, erzählt der 48-Jährige aus Bobingen. Seine Eltern unterstützen ihn bei seinem Vorhaben. Unter einer Bedingung: Nur ein Jahr gibt es Hilfe von daheim. Bis dahin muss er sozusagen Free Solo im Leben stehen und selbst für sich sorgen. Klappt das nicht, so die Abmachung, soll Füchsle eine Ausbildung machen. Klettern wäre dann nur noch Hobby, nicht Beruf. Er kniet sich rein, trainiert, klettert, sucht Sponsoren. Und meistert so die erste Schlüsselstelle seines Lebens: Füchsle wird Profikletterer.

In den folgenden Jahren etabliert er sich in der Kletterszene. 360 Tage im Jahr ist er unterwegs. Er tritt bei Wettkämpfen an, wiederholt die schwierigsten Routen, die damals geklettert werden, kommt in der Welt herum und lebt seinen Traum. Doch dieser endet abrupt.

Darmdurchbruch, Koma, Rollstuhl

Als Füchsle 2004 mit starken Bauchschmerzen zu seinem Internisten geht, schickt dieser ihn mit der Diagnose Blähungen wieder nach Hause. Als sich die Schmerzen nicht bessern, beschließt der Profi-Kletterer, der bereits seit Jahren wegen Morbus Crohn mit Kortison behandelt wird, ins Krankenhaus zu fahren. Innerhalb weniger Minuten ändert sich Füchsles Leben komplett. Es wird ein Darmdurchbruch bei ihm diagnostiziert, dazu eine Blutvergiftung. Er muss notoperiert werden, wird zwei Mal wiederbelebt und liegt anschließend 15 Tage im Koma. Als er wieder aufwacht, ist er vollständig gelähmt. „Die Ärzte haben mir und meiner Familie geraten, wir sollen uns schon einmal nach einem Pflegeheim umsehen“, erzählt er, „so schlecht wurden meine Chancen eingeschätzt, dass ich wieder auf die Beine komme.“ Für den einstigen Kletterprofi beginnt nun eine lange Leidenszeit. Vom Hals abwärts gelähmt, muss er gefüttert werden, sitzt im Rollstuhl, leidet unter Polyneuropathie, einer Nervenschädigung, hat einen künstlichen Darmausgang: Er ist ein totaler Pflegefall.

Der Weg zurück

Fünf Monate ist Füchsle in der Reha. Einfachste Bewegungen müssen neu erlernt werden, an Laufen oder gar Klettern ist nicht zu denken. „Aber für mich war die Hoffnung, wieder einmal klettern zu können, eine enorme Motivation“, sagt der Schwabe. Also beginnt er, sich zurückzukämpfen. Kaum kann er in der Reha die Arme wieder bewegen, ruft er seine Schwester an: „Bring mir Gummibänder und kleine Gewichte mit“, beauftragt er sie. Immer wieder erinnert er sich an die Zeit vor seinem Unfall. Auch daran, wie er früher trainiert hat. „Dadurch hatte ich einen konkreten Plan und habe es so geschafft, wieder aus dem Rollstuhl zu kommen“, berichtet Füchsle. Krankengymnastik, Tag für Tag. Nach den Armen kommen die Beine. Erst zwei Meter gehen, dann zehn, dann hundert. Schritt für Schritt kehrt die Beweglichkeit zurück, das Hirn übernimmt wieder die Kontrolle über die Muskulatur. Es geht bergauf. Doch der Weg ist steinig. Immer wieder kommt Füchsle physisch und psychisch an seine Grenzen. Im Laufe der Zeit verlässt ihn die Motivation. Er ist kurz davor aufzugeben, sein Leben entgleitet ihm. „Im ersten Jahr nach der Reha habe ich mich fast nicht auf die Straße getraut. Ich hatte ständig Angst, dass man den künstlichen Darmausgang sehen könnte. Ich hatte teilweise richtige Panikzustände.“ Er stürzt wieder Richtung Abgrund. Bis 2010 die Sicherung greift: Seine neue Freundin.

Mit ihr beginnt ein neuer Routenabschnitt. Sie gibt ihm Halt, ermutigt ihn, wieder anzugreifen. „Ohne meine Freundin hätte ich wahrscheinlich nie wieder mit dem Klettern angefangen“, sagt Füchsle heute. Gemeinsam starten sie Wanderungen. Es geht ins Zillertal, ins Allgäu und 2012 in den Bayerischen Wald. Als sie an einer künstlichen Kletterwand vorbeikommen, treibt seine Freundin ihn an: „Komm, probiere es doch einfach mal! Trau dich!“, beschreibt Füchsle die Situation. Und er traut sich. Er greift die Griffe, tritt die Tritte. Es funktioniert. „Das war der Startschuss, dass ich wieder mit dem Klettern angefangen habe“, berichtet er dankbar. Die Faszination aus Kindheitstagen ist sofort wieder da. In den folgenden Jahren steigert er stetig die Intensität. Training in der Halle, Training am Fels. Routen klettern, Bouldern. Und das alles mit Handicap. Nach wie vor hat Füchsle einen künstlichen Darmausgang, nach wie vor ist die neuronale Ansteuerung seiner Arme und Beine durch die Polyneuropathie gestört – und das bis zu heutigen Tag. Und trotzdem ist Klettern wieder ein fester Bestandteil in seinem Leben, nein: Klettern ist wieder sein Leben.


Die Einschränkungen, die er durch seinen Unfall hat, akzeptiert er und nimmt sie inzwischen mit Humor. „Vor allem beim Klettern mit Seil ist die Angst vor einem Sturz natürlich groß, schließlich liegt der Klettergurt über meinem Stoma-Beutel, also dem Auffangbehälter für den Stuhl. Wenn man sich nun überlegt, dass der bei einem Sturz auch abreißen könnte, ist zwar die Gefahr für meine Gesundheit nicht besonders groß. Aber was das für eine Sauerei gäbe, kann man sich vorstellen“, sagt er und muss lachen. Seine Faszination für das Klettern und seine Erfahrungen als Profi und Kletterer mit Handicap gibt er inzwischen als ehrenamtlicher Klettertrainer an den Kletter-Nachwuchs weiter. Er selbst kommt natürlich auch auf seine Kosten. Kaum eine Woche vergeht, in der er nicht seiner Passion nachgeht und auch wenn die Schwierigkeitsgrade früherer Tage inzwischen unerreichbar sind: Das Feuer in Füchsle brennt nach wie vor: „Es ist einfach geil wieder zu klettern. Das ist ein unfassbar gutes Gefühl.“

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