Interview mit Skispringer Thomas Morgenstern - "Nur ich und die Schanze" picture-alliance

Interview mit Skispringer Thomas Morgenstern - "Nur ich und die Schanze"

  • Nils Borgstedt
Skisprung-Weltcup-Gesamtsieger Thomas Morgenstern spricht im Interview über Vorbilder, Ängste und 10-Meter-Sprünge.

netzathleten: Skispringen ist kein Sport den Jedermann betreibt, wie bist Du dazu gekommen?
Thomas Morgenstern: Ich habe in meiner Kindheit viele Sportarten ausprobieren dürfen. Ich bin quasi mit dem Ball auf dem Fuß geboren worden, dann kamen die Alpin-Skier und schließlich die langen Sprunglatten. Irgendwann war einfach die Freude am Schanzenbauen größer, als durch Torstangen zu fahren oder Tore zu schießen. Ein großer Wegweißer war damals das Toni Innauer Skifest, das mich schließlich auf den richtigen Weg gebracht hatte. Der Traum vom Fliegen war schon immer vorhanden und jetzt kann ich ihn so richtig leben…was gibt es schöneres, als sein Hobby zum Beruf zu machen!

netzathleten: Wer waren Deine Vorbilder?
Thomas Morgenstern: Kazuyoshi Funaki aus Japan! Er war nicht nur für seine Erfolge mein Vorbild, sondern vor allem durch seinen Stil. Ästhetik spielt im Skispringen einen große Rolle.

netzathleten: Worin liegt der Reiz des Ski-Springens für Dich?
Thomas Morgenstern: Skispringen ist eine ganz besondere Sportart. Das Gefühl, frei wie ein Vogel einige Sekunden durch die Luft zu schweben, ohne jegliche Hilfsmittel - abgesehen von einem Paar Ski. Der Moment, in dem ich am Balken sitze, noch einmal in mich hinein fühle und mit vollem Vertrauen in meine Fähigkeiten mich dort oben wegstoße, ist einfach immer wieder aufs Neue etwas Besonderes. Es gibt kein Zurück mehr, nur ich und die Schanze.

netzathleten: Was muss passieren, dass Du wieder vom Bakken heruntersteigst und auf Deinen Sprung verzichtest?
Thomas Morgenstern: Bei einem Wettkampf gibt es eine Jury, die einschätzen muss, ob etwas gefährlich ist oder nicht. Wenn die Ampel auf Grün springt, hängt es schlussendlich, wie im Training, vom Freizeichen des Trainers ab. Wenn er die Fahne schwenkt, dann fahr ich los und springe mit vollstem Vertrauen. Vertrauen in die Menschen, die mit mir arbeiten, ist das wichtigste im Skispringen. Ich kann mich nicht auf eventuelle Gefahren konzentrieren, ich muss mit mir kämpfen und auf meine Fähigkeiten vertrauen!

netzathleten: Steigt die Angst zum Beispiel, wenn man mitbekommt, dass Springer vor einem gestürzt sind?
Thomas Morgenstern: Natürlich ist Angst beziehungsweise Respekt hier und da auch im Spiel. Das ist menschlich und gehört zu dieser Sportart, zum täglichen Leben. Ein kleiner Fehler und es kann sehr schnell schief gehen. Wenn jemand vor einem stürzt, hat man natürlich automatisch ein komisches Gefühl, aber es ändert nichts an der Sache. Man muss mit dieser Situation umgehen lernen. Alles andere würde einen hemmen und dann wird es richtig gefährlich.

netzathleten: Ist vielleicht auch gerade die Überwindung der Angst ein Faktor, der die Begeisterung beim Skispringen begründet?
Thomas Morgenstern: Natürlich! Jede Situation, jede Schanze ist anders. Der Blick hinunter ist etwas Außergewöhnliches. Vor allem, wenn ich etwa in Planica ganz oben auf der Plattform stehe und den Blick hinunter wage, dann ist das auch für mich als Skispringer, der das tagtäglich erlebt, etwas sehr beeindruckendes. Der Höhenunterschied, die Geschwindigkeit, die Gefahr... die Zuschauer… die Wahrnehmung der kleinsten Details laufen ab wie in einem Film. Angst darf vorhanden sein, solange sie nicht hemmt. Man muss einen Weg finden, um sie zuzulassen und mit ihr umzugehen.

netzathleten: Braucht man ein wenig Angst zum Skispringen?
Thomas Morgenstern: (Lacht) Schwer zu sagen, ob es zwingend notwendig ist. Angst ist vielleicht das falsche Wort. Man braucht Respekt. Respekt vor der Schanze, vor den Witterungsbedingungen und vor den Konkurrenten.

netzathleten: Ein Sprung vom 10 Meter Brett im Schwimmbad ist für Dich kein Problem, oder?
Thomas Morgenstern: …ich springe doch lieber von einer Schanze, da fühle ich mich wohler, weiß, was auf mich zukommt und kann den Aufprall besser einschätzen. (lacht)


netzathleten: Macht Skispringen auch in gewisser Weise süchtig?
Thomas Morgenstern: Auf alle Fälle! Bevor es zum eigentlichen Sprung kommt, schnalle ich mir die Skier an und gehe meinen Sprung noch einmal visuell durch! Ich stelle mir vor, wie er sich anfühlen soll, wird! Der Moment, in dem man am Zitterbalken sitzt, das In-sich-gehen, die jubelnden Menschen, die Klarheit und Sicherheit über sich selbst und meine Fähigkeiten, dann das Wegstoßen. Es gibt kein Zurück mehr, man beschleunigt in vier Sekunden auf knapp 100km/h und irgendwann ist die Anlaufspur zu Ende….man muss eine Entscheidung treffen binnen kürzester Zeit die richtige technische Bewegung mit einer gewissen An- und Entspannung und vor allem mit einer Portion Vertrauen durchziehen! Dann kommt der Flug…das schönste überhaupt…einfach nur genießen! Es fühlt sich an wie ein Geschenk…ich kann fliegen! …und für kurze Zeit frei wie ein Vogel zu sein! Der Traum vom Fliegen wird für kurze Zeit Realität!

netzathleten: Wie sind Eure Trainingsumfänge, wie viele Stunden pro Woche verbringt ihr im Kraftraum?
Thomas Morgenstern: Das ist unterschiedlich, kommt auf die Woche bzw. das Monat drauf an, ob Sommervorbereitung oder während der Wettkampfphase im Winter! Aufbauphase oder Krafterhaltung! Im Skispringen kommt es, wie auch beim Sprung selber, auf die Qualität des Trainings an…diese ist von enormer Bedeutung! Ich habe ca. drei bis vier Krafteinheiten pro Woche, dann noch das Training auf der Schanze, und natürlich die aktiven Erholungen und Regeneration!

netzathleten: Lohnt sich das harte Training für die kurzen Glücksmomente während des Fluges?
Thomas Morgenstern: Auf alle Fälle! Wenn man das Gefühl hat, frei wie ein Vogel über den Hang zu gleiten und ganz weit zu fliegen, dann lohnt es sich richtig! Skispringen macht süchtig!

netzathleten: Hast Du manchmal Versagensängste? Angst, dass Dir das widerfahren könnte, was Sven Hannawald passiert ist, der körperlich und seelisch völlig ausgebrannt war, die Karriere beenden musste und sich sogar in eine Klinik einliefern ließ…
Thomas Morgenstern: Nein! Ich vertraue auf mich und meine Fähigkeiten. Im Vergleich zu Zeiten von Sven Hannawald hat sich der Skisprungsport sehr ins Positive entwickelt. Durch die Einführung des BMI’s hat sich auch das Thema Magersucht aus unserem Sport verabschiedet. Ich bin körperlich sehr gut durchtrainiert und fühle mich gesund und extrem wohl in meinem Körper.

netzathleten: Beispiel Martin Schmitt: Früher absolute Weltspitze, heute springt er zumeist hinterher. Warum gibt es beim Skispringen solch große Leistungsschwankungen?
Thomas Morgenstern: Dieses Phänomen ist sehr schwer zu erklären. Im Sport ist es im Prinzip überall so, dass man nicht so einfach über 15 Jahre absolute Weltspitze sein kann. Die ständigen Regeländerungen und die Entwicklung des Skispringens tragen sicher einiges dazu bei.

netzathleten: Was ist technisch bei der Ausrüstung noch an Verbesserungen möglich?
Thomas Morgenstern: Das Material und der Athlet entwickeln sich von Jahr zu Jahr gemeinsam weiter! Bin schon gespannt, welche Revolutionen es in Zukunft geben wird!

netzathleten:Wenn die Schanze groß genug wäre, wie weit könnte man springen?
Thomas Morgenstern: Der Traum vom Fliegen wird von Jahr zu Jahr immer schöner! Die Schanzen werden größer, die Technik stabiler und schließlich auch die gesprungenen Weiten! Mal sehen, was die Zukunft bringt und wie weit ein Mensch in der Lage ist, mit einen paar Skiern, zu fliegen!

netzathleten: Vielen Dank für das nette Interview.

Interview: Derk Hoberg, Nils Borgstedt

Hier seht Ihr Thomas Sprung im Finale der Vierschanzentournee 2011, der ihm den Sieg der Tournee sicherte:

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