Interview mit Dr. Dr. Homayun Gharavi – „Den Muskel zu dehnen ist Vergangenheit” thinkstockphotos.com

Interview mit Dr. Dr. Homayun Gharavi – „Den Muskel zu dehnen ist Vergangenheit”

  • Nils Borgstedt
Dr. Dr. Homayun Gharavi betreut zahlreiche Spitzensportler und Verbände als medizinischer Berater. Unter anderem zählen die russischen Olympiaschwimmer von London und Schwimmweltmeisterin Yulia Efimova zu seinen Klienten. Auf dem Functional Training Summit 2013 traf netzathleten.de Gharavi zum Interview. Das Thema: Dehnen.

netzathleten: Über kaum etwas lässt sich besser streiten, als über das Dehnen. Was ist denn nun die richtige Antwort? Soll man? Soll man nicht? Nur ein wenig?
Dr. Homayun Gharavi: Ich denke, das Thema Stretching ist ein bisschen in eine falsche Richtung geraten, weil man sich zu sehr auf den Muskel konzentriert. Man muss das Ganze hierarchisch betrachten. Das ausführende Organ ist der Muskel. Die Befehle für die Ausführung kommen in erster Linie vom Cortex, also dem Hirn, und gelangen über das Rückenmark an die Nervenbahn und dann an die Muskulatur. Was ich will, ist ein freier Bewegungsradius, ohne den Muskel zu dehnen. Wenn du den Muskel dehnst, wird er natürlich langsamer. Und daher rühren auch die ganzen Debatten, ob man nun vorher oder nachher dehnen soll.

netzathleten: Und wie sieht dann im Idealfall Dehnen konkret aus?
Dr. Homayun Gharavi: Ich will eigentlich weg von dem Begriff Dehnen. Es geht mehr darum, die Beweglichkeit zu verbessern, zu fördern und einfach den einzelnen Körperpartien genügend Leine zu geben. Man kann es mit einer Situation im Ehebett vergleichen. Wenn die Decke zu knapp ist für beide, und eine Seite zieht an, dann hat die andere Seite keine Decke mehr. Und das gilt bei der Muskulatur auch. Wenn ich ‚zu kurz‘ bin, wie es so schön heißt, dann hat das direkte Folgen. Beispielsweise beim Fußball. Ich schieße und ziehe damit die komplette „Decke“ zu den Beinen und dann ist es am Rücken zu tight, zu fest. Das vermeintliche Dehnen bezieht sich letztendlich nur auf eine Verbesserung der Beweglichkeit.

netzathleten: Dennoch dehnen sich ja viele Sportler statisch oder dynamisch vor dem Sport. Wie sollte man sich denn warm machen, um sich auf die kommende Belastung vorbereiten?
Dr. Homayun Gharavi: Wenn man diese Beweglichkeitsförderung über die Nervendehnung oder Fasziendehnung angeht, dann ist es in meinen Augen ganz egal, wann man sich dehnt. Ob das nun vor dem Sport oder nach dem Sport ist, hat keinen Einfluss auf das Ergebnis. Wenn man sich die Dehnprotokolle, auf die ich gekommen bin, anschaut, dann sind auch sehr viele Yoga-Elemente enthalten. Das habe ich allerdings erst später gemerkt. Ich war nie ein besonders großer Verfechter von Yoga, bin es aber mittlerweile. Den Schmerz, den man bei diesen Übungen spürt, ist ein ganz anderer, als der „klassische Dehnungsschmerz“. Das ist ein ganz dumpfer, unfassbar unangenehmer Schmerz.

netzathleten.de: Heißt also, man kann einfach mit dem Sport loslegen?
Dr. Homayun Gharavi: Ganz genau. Letztendlich geht es nur darum, den Nerven beizubringen, dass ein Dehnungszustand – der Nerv läuft ja durch den Muskel – normal ist, sodass er dem Muskel kein Alarmzeichen geben, und dieser folglich nicht gegenspannen muss.

netzathleten.de: Das heißt also auch, dass Deiner Meinung nach statisches Dehnen definitiv der Vergangenheit angehört?
Dr. Homayun Gharavi: Ob nun statisches oder dynamisches Dehnen, ich würde sagen: Den Muskel zu dehnen, das gehört der Vergangenheit an. Wobei das auch eine sehr gewagte Aussage ist, weil es alle tun, außer mir. Und diejenigen, die bei mir in den Kursen waren, die machen es auch nicht mehr. Das Ganze ergibt einfach Sinn. Man muss sich aber selbst davon überzeugen.

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