Interview mit Oliver Schmidtlein – Was ist Functional Training? Perform Better; Porträt Oliver Schmidtlein: picture alliance

Interview mit Oliver Schmidtlein – Was ist Functional Training?

  • Nils Borgstedt
Im ersten Teil unseres Interviews erklärt Oliver Schmidtlein, ehemaliger Physiotherapeuth der Nationalmannschaft und des FC Bayern München, Functional Training. Was versteht man darunter und worin liegen die Vorteile?

Netzathleten: Herr Schmidtlein, unser Gespräch soll sich um Functional Training drehen. Dazu brauchen wir natürlich erst Mal eine Definition, was Functional Training eigentlich ist.
Oliver Schmidtlein: Ich habe meine eigene Definition von Functional Training gefunden, die eng mit dem in Verbindung zu bringen ist, was Michael Boyle, Gray Cook oder Mark Verstegen sagen. Wobei Mark Verstegen eigentlich nie von Functional Training spricht, da sein Konzept weit über das Training alleine hinausgeht. Zunächst muss man bedenken, dass Functional Training im englischen Sprachgebrauch verschieden benutzt wird. Einmal dient es als Überbegriff für ein ganzes Trainingskonzept – das entspricht auch meiner Ansicht und der der Kollegen, die ich gerade aufgezählt habe.

Auf der anderen Seite gibt es aber gerade in den USA auch einige, die – wie ich – vor allem aus dem Reha-Bereich kommen. Für diese Leute ist Functional Training nur ein Teil des gesamten Trainings. Das hat damit zu tun, dass Physiotherapeuten viele Methoden, die im Functional Training stattfinden, ohnehin schon eingesetzt haben und es deshalb nicht als etwas Eigenes sehen. Beispiele für solche Methoden wären das Training mit Schlingen, mit Bällen oder auf Bällen.

Für diejenigen, die aus der Reha kommen, ist Functional Training der Teil, in dem man das Training ganz nah an die Zielbelastung heranbringt. Ein Beispiel zu dieser Definition wäre Folgendes: Wenn sich ein Handballspieler athletisch auf ein Spiel oder Training vorbereitet, dann würde er im Functional Training-Teil keine klassischen Bizeps- oder Trizepsübungen an entsprechenden Geräten absolvieren, wie er es vielleicht vorher gemacht hat. Er würde beispielsweise an einem Seilzug eine Übung machen, die der Wurfbewegung ähnelt. Das ist aber, wie gesagt, nicht meine Meinung.

Netzathleten: Wie sieht dann ihre Definition aus?
Oliver Schmidtlein: Für mich fängt Functional Training schon viel früher an. Das hängt damit zusammen, dass ich mich an der Definition orientiere, dass Functional Training Bewegungen trainiert und nicht einzelne Muskeln. Es gibt sehr viele Eigenschaften, die typisch sind für Functional Training. Man kann diese allerdings nicht hundertprozentig festmachen, denn dann wird es dogmatisch, dadurch wieder fest und würde sich damit selbst widersprechen. Functional Training hat eben grade die Eigenschaft, dass es sehr weit gegriffen ist und viele Freiheiten lässt. Man trainiert dadurch, dass die Übungen sehr komplex sind, sehr viele Sachen gleichzeitig. Und das ist für mich das typische an Functional Training: Nämlich mehrere Funktionen gleichzeitig zu üben.

Netzathleten: Häufig wird Functional Training auf Übungen auf wackeligen Untergründen reduziert, aber gleichzeitig die Alltagstauglichkeit propagiert. Wie passt das zusammen? Wann bekommt man es denn sowohl im Sport, als auch im Alltag mit einem wackeligen Untergrund zu tun?
Oliver Schmidtlein: Sehr gut, dass sie das fragen. Das ist eben die Definition, die nicht hinhaut. Aber das ist leider auch das, was ich oft gesehen habe. In einigen Fitnessstudios denken die Trainer, sie machen Functional Training, indem sie die Leute Übungen nicht vor dem Spiegel sondern auf dem Kreisel ausführen lassen. Das ist natürlich Quatsch. Und es ist auch schlecht, weil die wenigsten Menschen das wirklich gut konnten. Die wackligen Unterlagen kommen zwar im Functional Training zum Einsatz, sind aber nur Teil eines Wechseltrainings. 95 Prozent der Zeit und der Übungen, die man macht, finden auf ganz normalem Untergrund statt. Das Stehen auf irgendwelchen wackeligen Kissen, Kreiseln oder auf dem Trampolin allein, hat nichts mit Functional Training zu tun, es ist eben nur ein Teilaspekt. Wenn ich meine Definition also auf einen Satz reduzieren müsste – was eigentlich nicht geht, da es zu vielschichtig dafür ist – würde ich sagen: Functional Training beinhaltet mehrere Trainingsaspekte innerhalb einer Übung oder einer Trainingseinheit. Das ist Functional Training für mich. Und Balance ist eben auch ein Übungsaspekt.

Das wichtigste Stichwort im Zusammenhang mit Functional Training sind Progressionen. Die wackligen Unterlagen, um bei Ihrer Frage und Ihrem Beispiel zu bleiben, ist ein Teil, der irgendwann am Ende einer Progression hinzukommt. Aus dem Zweibeinstand wird eine Schrittstellung, aus einer Schrittstellung wird der Einbeinstand, aus dem Einbeinstand wird ein Einbeinstandsprung und dann passt, wenn man diesen Einbeinstand im Beinachsentraining macht, auch der wackelige Untergrund dazu.

Zum zweiten Teil der Frage: „wie passt das zusammen, man hat nie mit wackeligen Untergründen zu tun.“ Zunächst muss ich sagen: das stimmt. Wenn man aber trainiert, macht man sich eben diese neuen und anders gesetzten Reize zunutze, um sich zu verbessern. Ähnlich wäre es, wenn man beim klassischen Krafttraining, bei dem Leute in Maschinen trainieren und einen Bügel, Hebel oder eine Stange von hinten nach vorne wegdrücken, fragen würde: wann passiert denn das im Alltag? Im Alltag passiert das wohl auch nur den Wenigsten von uns. Das ist auch nur Mittel zum Zweck, ein Hilfsmittel, um der Muskulatur, in dem Fall Brust bzw. Armen, einen Widerstand entgegenzusetzen, den sie dann wegdrückt. Und so sind die wackligen Unterlagen einfach ein Hilfsmittel, um eine bestimmte Muskelfunktion isoliert oder gezielt herauszukitzeln. Sie dürfen aber, wie gesagt, nur an einer bestimmten Stelle des Trainings zum Einsatz kommen.

Und Progressionen sind beim Functional Training deswegen wichtig, weil sie nicht nur in der Erhöhung des Gewichts liegen. Beim klassischen Gerätetraining erreicht man eine Progression, indem man den Pin einfach ein Gewicht weiter unten hineinsteckt. Beim Functional Training muss man überlegen, was ist die nächste Ausgangsstellung, die schwieriger ist? Wie kann ich die Übung schwieriger machen? Und dabei gibt es nicht nur einen Aspekt, den ich schwerer machen kann, sondern mindestens drei. Ich kann entweder den Kraftaspekt erhöhen, indem ich das Gewicht vergrößere, ich kann den koordinativen Aspekt erhöhen, indem ich eine Bewegung machen lasse, deren Ablauf man bewusst kontrollieren muss und ich kann den sensomotorischen Aspekt erhöhen, indem ich zum Beispiel eine wackelige Unterlage dazu nehme oder statt auf zwei Füßen auf einem stehe. Ich muss mir also immer überlegen: welchen Aspekt verändere ich? Progression bedeutet in diesem Fall nicht, einfach nur das Gewicht zu erhöhen, sondern es kann auch einfach eine Variation einer Übung sein. Sie muss dabei auch nicht unbedingt schwieriger werden, sondern ein anderer Aspekt wird mehr betont. Das ist ja auch das Interessante und Abwechslungsreiche am Functional Training. Es geht eben nicht nur um Kraft, sondern auch um andere Eigenschaften.

Netzathleten: Liegen also gerade in der Abwechslung und der Variation auch die Vorteile von Functional Training?
Oliver Schmidtlein: Das ist sicherlich nur ein Aspekt von mehreren Vorteilen. Erst einmal lässt sich Functional Training auch zur Reha einsetzen, schließlich hat es dort teilweise seinen Ursprung. Ein weiterer Vorteil ist, dass man mit relativ einfachem Equipment zurechtkommt, das heißt, man ist von der Logistik her etwas flexibler. Ein weiterer großer Vorteil ist in meinen Augen auch die Effektivität des Trainings. Dadurch, dass ich immer mehrere Eigenschaften gleichzeitig in einer Übung trainiere, sind in einem 35- bis 60-minütigen Training viele Eigenschaften enthalten. Wenn ich im Vergleich 60 Minuten „nur“ Gerätetraining mache, habe ich 60 Minuten Krafttraining gemacht. Habe dabei aber noch keine Balance, keinen Einbandstand, keine Beinachse, Gleichgewicht und Stabilität trainiert, sondern nur Kraft. Wenn ich aber ein Schlingentraining hernehme, habe ich gleichzeitig Kraft, Gleichgewicht und Stabilität trainiert. Für die meisten Menschen reicht aber auch der Kraftaspekt beim Functional Training. Will man allerdings seine Maximalkraft verbessern, dann eignen sich viele Functional Training-Übungen nicht. Das ist natürlich eine kleine Limitierung.

Im zweiten Teil unseres Interviews mit Oliver Schmidtlein, der am Montag veröffentlicht wird, erfahrt ihr, ob und warum sich Functional Training für Ausdauer- und Mannschaftssportler eignet und, ob Functional Training auch für zu Hause geeignet ist.

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