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Auf Zanardis Spuren: Ronny Ziesmer will zu den Paralympics

  • Stefan Schnürle
Ein Trainingsunfall beendete vor neun Jahren die Karriere von Top-Turner Ronny Ziesmer – im Rennrollstuhl arbeitet der deutsche Mehrkampf-Meister von 2003 jetzt mit großer Willenskraft an seinem Comeback im Spitzensport und träumt von den Paralympics in Rio.

Ronny Ziesmer kehrt zurück. Dieser Tage wird man den 34 Jahre alten Cottbuser dort finden, wo er einst in seinem Element war: Bei einem großen, internationalen Turn-Wettkampf – der WM in Antwerpen. Ziesmer wird fürs ZDF als Kommentator vor Ort sein. Selbst mit- und vorzuturnen – das war viele Jahre Alltag für den ehemaligen Deutschen Mehrkampf-Meister, ehe ein Trainingsunfall kurz vor den Olympischen Spielen 2004 seine Karriere als Leistungsturner beendete.

Neun Jahre später trainiert der seitdem querschnittgelähmte Ziesmer wieder zwei Mal täglich – mit immensem Einsatz. Unermüdlich arbeitet er an seiner Rückkehr in den Leistungssport. Und dafür lernt er von der Pike auf eine neue Sportart – allen Widrigkeiten zum Trotz.

Bei den Paralympics in Rio will er im Rennrollstuhl über die Sprintdistanz sein Comeback geben, am liebsten über 100 und 400 m. „Ich bin hier ein absoluter Newcomer, im Grunde muss ich bei null anfangen“, sagt Ziesmer, der in seiner Heimat am Landesstützpunkt für Behindertensport trainiert. Nach dem verunglückten Trainingssprung vor knapp zehn Jahren und der anschließenden Reha hatte er sich zunächst am Handbike versucht und war damit beim Berlin-Marathon gestartet. Doch seine Chancen auf die Paralympischen Spiele über die 42-km-Distanz waren gering.

Sechs Sekunden fehlen Ziesmer noch


Also sattelte Ziesmer um: Aus dem Turner wurde ein Leichtathlet. Allerdings einer, der nun all das, wofür Andere vom Jugendalter an trainieren, im Schnellverfahren nachholen muss. „Noch bin ich in der Ausprobierphase. Ich muss die richtige Sitzposition im Rennrollstuhl finden, die richtige Technik. Das kann alles noch dauern“, sagt er.

Anders als im Turnen gehe es in der Leichtathletik außerdem viel um Ausdauerarbeit: „Am Reck dauert die Belastung vielleicht maximal eine Minute. Wenn ich mit dem Rennrollstuhl zehn Kilometer fahre, geht das je nach Geschwindigkeit 30 bis 60 Minuten.“ Auch am Material wolle er weiter feilen, denn noch hat er keinen eigenen, auf ihn maßgeschneiderten Rennrollstuhl.
Wohl auch deswegen liegt sein Ziel ‚Rio 2016‘ noch in ziemlich weiter Ferne. In 29,9 Sekunden fuhr Ziesmer bei den Deutschen Meisterschaften Mitte Juni in Berlin die 100 m, der Weltrekord in seiner Schadensklasse T 51 liegt derzeit bei 21,1 Sekunden.

Um vom Deutschen Behindertensport-Verband (DBS) für Rio nominiert zu werden, dürfte wohl eine Zeit um die 24 Sekunden notwendig sein. Trotzdem halten es viele für nicht unwahrscheinlich, dass Ziesmer das schafft. „Ich traue ihm eine ganze Menge zu. Er arbeitet sehr konzentriert an sich und sucht immer nach Möglichkeiten, wenn etwas nicht funktioniert. Es wird nicht einfach für ihn, aber er ist jemand, der um alles kämpft und immer 120 statt 100 Prozent gibt“, sagt Landestrainer Ralf Paulo über seinen Schützling.

Ziesmer: "Ich profitiere von meiner Zeit als Leistungsturner"


Ziesmer sei mit seiner „vorbildlichen Einstellung“ in Cottbus mittlerweile auch für viele Sportler ohne Behinderung zum Vorbild geworden. Denn selbst wenn er einen Großteil seiner Bewegungsfähigkeit verloren hat, sein Ehrgeiz, der ihn einst zu den vielversprechendsten Turnern des Landes werden ließ, ist immer noch da. Ziesmer sagt: „Wenn man zu den Paralympics will, dann kann man sich nicht nicht quälen. Der Rest der Welt schläft ja auch nicht.“ In Watte gepackt werden will er ohnehin nicht. Wer nach den ganz persönlichen Folgen seines Unfalls fragt, der erhält die ziemlich pragmatische Antwort: „Man muss sich arrangieren. Das Leben geht weiter.“

Ziesmer hat einige prominente Kollegen, die vorgemacht haben, wie das geht. Der frühere Formel-1-Rennfahrer Alessandro Zanardi verlor bei einem Unfall 2001 auf dem Lausitzring beide Beine und feierte im vergangenen Jahr als 45-Jähriger bei den Paralympics als Handbiker mit zwei Goldmedaillen sein Comeback im Spitzensport. Oder Olympiasiegerin Ilke Wyludda aus Leipzig, die nach einer Unterschenkelamputation auf Grund eines Infekts bei den Paralympics in London mit dem Diskus (9.) und im Kugelstoßen (5.) an den Start ging.

Auch Ziesmer sagt: „Wenn man einmal für den Sport gelebt hat, will man das eben immer wieder.“ Seine Erfahrung könnte für ihn auf dem Weg nach Rio zum Vorteil werden. Er weiß, wofür er all die Anstrengungen auf sich nimmt, die wochenlangen Trainingslager, die auf den einen Höhepunkt der Saison ausgerichtet sind: „Natürlich profitiere ich noch von meiner Zeit als Leistungsturner. Wenn man das über zwei Jahrzehnte macht, ist vom Kopf her der Wille immer noch da.“

Die Turn-WM in Belgien dürfte Ziesmer als weiterer Motivationsschub dienen – so nah dran an der großen Bühne des Spitzensports. Andererseits: Muss dieser Ronny Ziesmer überhaupt noch zusätzlich motiviert werden?

Von Amelie Herberg

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