Quo Vadis, Sportdeutschland? Rhein Neckar Löwen -- Sportjournalist Frank Schneller

Quo Vadis, Sportdeutschland?

  • Hans-Joachim Lorenz und Frank Schneller
Zwischen DFB-Desaster und Basketball-Sternstunden, Leichtathletik-Blamagen und Olympia-Träumen, Systemfragen und Budget-Kürzungen: Der deutsche Sport offenbart sich in einer zunehmend gespaltenen Gesellschaft ebenso: Gespalten. Nun soll eine neue Agentur die Fördergelder steuern. Ist das die Lösung für die Identitätskrise? Eine kommentierende Einordnung von Hans-Joachim Lorenz, Vizepräsident der Deutschen Olympischen Gesellschaft (DOG), und Frank Schneller, Sportjournalist und Redaktionsleiter der DOG, zum Ende eines Sommers, in dem nur der WM-Titel der Handball-Junioren und der Basketballer sowie das kurzfristige Revival Rudi Völlers etwas Aufbruchsstimmung erzeugten.
Es passte irgendwie ins Bild: Während die mit viel Fachwissen, Empathie und klarer Ansprache von Trainer Gordon Herbert orchestrierten deutschen Basketballer WM-Gold gegen Serbien holten, verkündete der DFB die Trennung des seit Monaten taumelnden Cheftrainers seiner vor vielen Jahren erfolgreichen Nationalmannschaft, Hansi Flick.

Sternstunden hier, Trauerspiel(e) dort. Sportdeutschland, ein gespaltenes Land. Spiegelbild der deutschen Gesellschaft und der Politik, die sich mit echten Reformen und stringenten Strategien genauso schwertut wie die großen nationalen Dachverbände. Dabei wäre es sogar geschönt, zu behaupten, der deutsche Sport würde aktuell irgendwo zwischen diesen Extremen hin- und her pendeln. Nein. Im Jahr 2023 überwiegen die Misserfolge und Enttäuschungen bei weitem.

Hans Joachim Lorenz
Hans-Joachim Lorenz, Vizepräsident der Deutschen Olympischen Gesellschaft (©privat)

Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist immens: Zum WM-Titel der perfekt zusammengeschweißten Basketballer gesellen sich noch die Junioren-Handballer, die ebenfalls Weltmeister wurden, obendrein im eigenen Land, und die letzten Erfolge der Eishockey-Nationalmannschaft – um einige der wenigen erfreulichen Beispiele zu nennen.

Krisensommer: The trend is not our friend

Dem gegenüber stehen die kläglichen wie desillusionierenden Entwicklungen der Fußballnationalteams, ihr frühzeitiges Aus bei den letzten großen Turnieren: Missratene Missionen mit Ansage. Systematisches Scheitern. Dazu eine Leichtathletik-WM ohne auch nur eine deutsche Medaille, eine Ruder-WM haarscharf am Imageschaden vorbei, enttäuschte EM-Hoffnungen der Hockey- und Volleyball-Nationalteams … – und bisweilen entlarvende Diskussionen auf Funktionärsebene: Hier der ungeachtet des folkloristischen Tons von DFB-Vize Hans-Joachim Watzke beinahe schon philosophische Fußballstreit um die Jugendreform, dort der Diskurs rund um die ungenügenden Fördermittel für den deutschen Sport bei gleichzeitigen Bestrebungen, bei der Vergabe der Olympischen Spiele endlich mal wieder ein Wörtchen mitreden zu können.

sport minister konferenz

Wie das alles zusammenpasst? Gar nicht. Wie derzeit so vieles nicht in Deutschland. Was wurde aus der Spitzensportreform von Bundesinnenministerium und DOSB nach den Spielen von Rio 2016 – Leistungssteigerung durch Kürzungen und Umverteilungen? Man muss sie als gescheitert betrachten. Knapp ein Jahr vor den Olympischen Spielen in Paris.

Reform-Reform: Nicht ausreichende Korrekturen

Reaktion auf die (Identitäts-)Krise und gleichzeitig ein Eingeständnis eben dieser durch Dachverband und BMI: Die Reformierung der Reform*. Genauer: Die Gründung einer unabhängigen Sportagentur, die fortan über die Verteilung der Fördergelder entscheiden soll. Zudem soll laut Sportministerkonferenz das zuletzt stark in die Kritik geratene Potenzialanalysesystem ‚PotAS‘ weiterentwickelt und in die neue Sportagentur „integriert werden”. * Siehe Papier zur Neustrukturierung am Textende.

DOSB-Präsident Thomas Weikert sprach von einem wichtigen „Meilenstein zur Weiterentwicklung des Leistungssportsystems in Deutschland. Wir haben bei der Veröffentlichung des Grobkonzepts im November 2022 gesagt, dass die Spitzensportförderung in Deutschland flexibler, digitaler, innovativer und weniger bürokratisch werden soll. Diesem Ziel sind wir ein großes Stück nähergekommen.”

Ob sich pikante Konstellationen wie jene beim Speerwurf-WM-Finale dadurch künftig verhindern lassen? Olympiasieger Neeraj Chopras gewann auch dort Gold, während kein Deutscher aufs Treppchen kam. Trainer des Inders: Der deutsche Wurfcoach Klaus Bar¬tonietz, 75 – in der Heimat offenbar längst nicht mehr gefragt.

Die für den Sport zuständige Innenministerin Nancy Faeser wird solche Ungereimtheiten kaum vor Augen haben, wenn sie jetzt mit Blick auf die neue Agentur und die Abkehr des Bundes von der Streichung von rund 27 Millionen Euro für den Sport erklärt: „Wir wollen sportliche Höchstleistungen auf Top-Niveau ermöglichen. Dafür brauchen wir die besten Trainingsbedingungen, gezielte Förderung und weniger Bürokratie für die Verbände.”

Komfortzonen erkennen und hinterfragen

Soviel zum bürokratischen Ansatz, der Misere beizukommen und Bürokratismus abzubauen. Reicht das? Gewiss nicht. Einsparungen teilweise wieder kassieren – das mag ein Hoffnungsschimmer sein. Doch es geht um viel mehr. Weil Sport auch Emotion ist, Spaß machen muss, weil Leistung Spaß machen muss und Spaß Leistung erzeugt, gehört mehr dazu als eine Task Force nach der anderen, egal wie man sie verkleidet oder nennt. Der Sport braucht neben alten, aber nicht veralteten Tugenden auch neue Impulse. Und neue Vorbilder. Die besten deutschen Basketballer sind in der NBA aktiv. Weit weg im Alltag. Man muss daher hoffen, dass die Gastgeberrolle bei Handball- und Fußball-EM 2024 zusätzliche Energiequellen werden, aus denen der deutsche Sport schöpfen kann.

Ein Umdenken muss indes nicht nur rund um die Leistungssportlerinnen und -Sportler einsetzen. Sondern bisweilen auch unter den Aktiven selbst. Eine Mentalitätsdiskussion darf vor ihnen nicht haltmachen. In jedem Bereich müssen sich alle Beteiligten (hinter-) fragen, wie viel – und sei es nur unterbewusst eingerichtete – Komfortzone da eventuell zwischen Anspruch und Wirklichkeit liegt.

Einen starken Hinweis darauf lieferte gerade die DFB-Auswahl, die mit dem 90-Minuten-Interims-Motivator Rudi Völler ausgerechnet gegen Vizeweltmeister Frankreich ihre Dauermisere unterbrach. Nicht zuletzt auch, weil sie sich nicht mehr hinter ihrem hoffnungslos überfordert wirkenden Trainer verstecken konnte. Allen Lippenbekenntnissen zum Trotz.

Der oftmals entrückt wirkende DFB und seine zuletzt Antiwerbung betreibenden Auswahlmannschaften sind natürlich eine eigene Geschichte. Das liegt nicht zuletzt an den Einkommensverhältnissen der Profis. Doch ist die Gehälter-Diskrepanz allein kein Ausschlusskriterium für eine Einbeziehung des DFB in das Gesamtbild des deutschen Sports. Schließlich verdienen vor allem die für den Basketball-WM-Titel unverzichtbaren deutschen NBA-Profis sehr viel Geld. Und waren trotzdem hungrig auf Erfolg.

Gefragt: Neue Impulse und intrinsische Motivation

Vor allem mit Blick auf die Flick-Nachfolge und die Verpflichtung von Andreas Rettig als Geschäftsführer – in ihm hat man sich immerhin mal jemanden ins Haus geholt, der gerne Reibung erzeugt – passt der DFB sogar gut in den Kontext. Denn: Mentalitätsfragen – um nicht immer gleich den Charakter von Leistungssportlerinnen und Sportlern anzuzweifeln, wenn es nicht läuft – sind eng verknüpft mit handelnden Personen in der jeweiligen Struktur der Aktiven. Mit Impulsen und Vorgaben.

Bedarf es einer großen Portion intrinsischer Motivation, wie weiter oben angemahnt? Selbstverständlich. Doch auch das Umfeld spielt eine entscheidende Rolle. Trainerinnen und Trainer. Berater. Und Funktionäre, die keine Schreibtischtäter sind, die es ernst meinen. Bis heute trauert man nicht nur beim DOSB beispielsweise Persönlichkeiten wie Helmut Meyer oder Ilse Bechthold nach, weil es von deren Sorte nicht mehr viele gibt: so nah am Sport, mit hoher Akzeptanz bei den Aktiven. Mit Leib und Seele dem Spitzensport verschrieben. Vom Fach.

Jemand wie Bahnrad-Olympiasiegerin und DOSB-Vizepräsidentin Miriam Welte. Sie offenbart jene Basisnähe und jenen Realismus, die Voraussetzungen für gelebtes und nicht nur opportun zur Schau gestelltes Verständnis für die Belange der Aktiven sind. Mit Blick auf die drohenden Mittelkürzungen hatte Welte unlängst erst Bekenntnisse der Politik und Gesellschaft zum Spitzensport, zu Olympischen Spielen in Deutschland, zu einer Rundumerneuerung des deutschen Sports gefordert. Aber eben auch das nötige Mindset bei den Aktiven: „Zum Teil fehlt uns wirklich die Leistungsbereitschaft.“

Fazit für und Botschaft an Aktive wie Funktionäre: Das Sommermärchen der Basketballer darf nicht davon ablenken, dass der Sport hierzulande derzeit an allen Ecken und Enden krankt. Sein gesellschaftlicher Stellenwert wird zunehmend unterminiert. Die drohenden oder bereits vorherrschenden Folgen für unsere Gesellschaft – Stichwörter: Gesundheit und Prävention – sind unübersehbar. Um die Krise zu überwinden, sind Führungsqualitäten gefragt, Verantwortungsbewusstsein und ein echtes Bekenntnis zum (Spitzen-)Sport hierzulande. Sonst ist dieser nicht nur Spiegelbild unserer Gesellschaft, sondern, fernab mangelnden Selbstwertgefühls aufgrund fehlender Erfolge, auch ein ernstes Problem für sie.

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