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Tennis: Die Mentalitätsschmiede

  • Lars Schneller
Die jüngsten Auftritte der Fußballnationalmannschaft triggerten einmal mehr eine Diskussion, die in Deutschland in den letzten Jahren fast schon zur Tradition wurde: Immer wieder beklagen Verbände, Nachwuchszentren und Experten fehlende Alleinstellungsmerkmale und individuelle mentale Stärke im Spitzensport. Die Suche nach dem Sieger-Gen, nach Ausstrahlung und Standfestigkeit. Der – vor allem männliche – Profifußball mit seiner ‚Generation Austausch- und Unscheinbar‘ hat das Problem nicht exklusiv. Auch in anderen Disziplinen, im Handball oder in der Leichtathletik beispielsweise, wird hierzulande nach sogenannten ‚Mentalitätsmonstern‘ gesucht.
Der Begriff umschreibt nicht etwa das sportliche Talent, sondern besonders wertvolle Persönlichkeitsmerkmale, Charakterstärke, eine positive Grundeinstellung, Durchsetzungswillen, Kämpferherz und Siegermentalität. Ob in der Einzelsportart – oder im Team. Die Zutaten: Ehrgeiz, Fleiß, Disziplin und hartes Training. Das Motto: An den Erfolg glauben, niemals aufgeben, aber auch niemals zu früh zufrieden sein. Oder gar satt. Und nach Niederlagen oder Verletzungen aufstehen und zurückkommen!

Auf der Suche nach echten Champions lohnt der Blick auf eines der sportlichen Highlights eines jeden Sportkalenderjahres: Wimbledon steht vor der Tür. Das prestige-trächtigste aller Tennis-Grand-Slam-Turniere. Dort wo auch Boris Becker und Steffi Graf zu Legenden wurden, sind sie zu finden, die Champions. Ausnahme-Athlet*innen, Publikumslieblinge, aber auch polarisierende Charaktere mit Ecken und Kanten. Darunter auch: Novak Djokovic. Der 36-Jährige hat unlängst in Paris seinen 23. Grand-Slam-Titel gewonnen und damit die alleinige Führung in der Tennis-Welt übernommen. Vor dem ersten Aufschlag auf dem ‚heiligen Rasen‘ schon thront er vor Rafael Nadal (22 Titel) und Roger Federer (21).

DREI! UND! ZWANZIG! Grand-Slam Siege - was für eine Zahl... (Nur) Serena Williams lässt grüßen.

Zum Vergleich: Boris Becker, Andre Agassi und John McEnroe kommen ebenfalls auf 23 Erfolge - in der Addition!

Als ehemaliger Leistungssportler (Handball, Tennis) verfolge ich die vier Top-Turniere einer Tennis-Saison (Australian Open, French Open, Wimbledon, US-Open) nach wie vor mit großem Interesse und noch mehr Faszination. Ich kenne keine andere (Ball-)Sportart, die Akteure näher an ihre physischen und mentalen Belastungsgrenzen bringt.

Der Stoff aus dem die Helden sind

Wenn der inzwischen 38-jährige Stan Wawrinka (dreimaliger Grand-Slam-Sieger, frühere Nr. 3 der Welt und nach unzähligen Verletzungen mehrfach vom Karriereende bedroht) keine 48 Stunden nach seinem Fünf-Satz-Erfolg in Runde eins, nach großem Kampf im Stile eines Champions und einer Spielzeit erneut jenseits der Vier-Stunden-Marke unter Standing Ovations verabschiedet wird, sind das die Momente, die mir als Zuschauer Gänsehaut bereiten. Wehmütig erkenne ich zudem, welch beeindruckende Karriere sich da inmitten der Generation Federer, Nadal, Djokovic dem Ende neigt.

Wenn bei einem Fußballspiel nach 90 oder 120 Minuten der Abpfiff ertönt, steht es auf dem Centre Court von Wimbledon nach der gleichen Spielzeit 6:4, 6:7 und 2:1 – Anfang des dritten Satzes; Best-of-five!

Wer bis ins Finale eines Grand-Slam-Turniers einzieht, der hat sieben Matches in 14 Tagen bestritten und stand etwa 20 bis 30 Stunden auf dem Platz.

Während die physische Belastung primär eine Frage von Fitness, Ausdauer und Kondition zu sein scheint, lassen sich die Gedanken vor, während und nach eines jeden Ballwechsels weder recht beschreiben und noch erklären. Ein Versuch ist es dennoch wert.

Wie in jeder anderen Sportart auch, entstehen Nervosität, Anspannung oder gar Versagensängste erst unter Wettkampfbedingungen und lassen sich im Vorfeld weder trainieren noch nachstellen oder simulieren. Auf diesem Niveau jedoch werden Spiele und Turniere eben vor allem auch im Kopf gewonnen. Durch mentale Stärke.

Verstecken unmöglich, auch nicht vor sich selbst

Tennis ist im Kern ein Einzelsport, ein einziger, fortwährender Showdown zweier Individuen (oft auch zulässig: der Begriff ‚Individualisten‘) – man ist sich und seinen Gedanken während des gesamten Matches selbst überlassen und auf sich alleine gestellt. Keine Mitspieler*innen, keine Mannschaft um sich herum, mit der sich ein Spiel auch an einem schlechten Tag im Kollektiv trotzdem noch gewinnen ließe. Keine Auswechslung, wenn sich nach dreieinhalb Stunden Erschöpfung und Müdigkeit einschleichen und der Körper den Anstrengungen Tribut zollt. Keine Halbzeitpausen oder Timeouts in denen der Trainer taktische Veränderungen vornehmen könnte.

Der Werbespot eines edlen Uhrenherstellers bringt es ziemlich genau auf den Punkt: „Unsere Tradition und Verbundenheit zu diesem Sport beruht jedoch auf einer ganz anderen Erkenntnis: Bei diesem Spiel steht der stärkste Gegner nicht auf der anderen Seite des Platzes – der stärkste Gegner ist man selbst."

Das Kopfkino in den wenigen Sekunden vor einem möglicherweisen (vor-)entscheidenden Aufschlagspiel, in denen man den gelben Filzball vor sich her tippt und überlegt ob man Cross, Longline oder auf den Körper servieren soll. Sich gleichzeitig vornimmt, Punkt für Punkt zu spielen und keinesfalls darüber nachzudenken was es bedeuten könnte, wenn man dieses Aufschlagspiel nicht durchbringt - und viel schlimmer noch, was wenn doch ... Wie beim Anlauf des Schützen während eines Elfmeterschießens. Nur nicht einmal, sondern immer wieder.

Die Symptome – Druck, Nervosität und Anspannung – mögen identisch sein. Der verwandelte Elfer verknüpft indes persönlichen Erfolg mit dem der Teamkollegen. Am Ende ist man lediglich Teil des Erfolgs. Den Matchball beim Tennis aber verwandelt man in erster Linie für dich selbst. Da kann der anschließende Dank an die Familie, Betreuer und Fans noch so ehrlich gemeint sein. Denn diese Situationen durchlebt man: alleine!

Der erste Punkt: Netzroller! 0:15

„Nicht nachdenken! Nicht überlegen! Es ist nichts passiert!"

Der zweite Punkt: Erster Aufschlag knapp im aus.

„Nicht nachdenken! Nicht überlegen!"

Zweiter Aufschlag: Doppelfehler! 0:30

Stimmungsschwankungen, Selbstzweifel...

Die Ups und Downs während eines einzigen Matches – eine emotionale Achterbahnfahrt.

Was in den ersten beiden Sätzen noch wie selbstverständlich funktioniert haben mag, funktioniert nun auf einmal nicht mehr. Abläufe, Strategie, Matchplan, Automatismen - alles weg!

Äußerlich versucht man sich nichts anmerken zu lassen und cool zu wirken, innerlich jedoch fängt man an mit sich zu hadern, weil es doch eigentlich gar keine Erklärung zu geben scheint.

Genau das ist der Moment, auf den der Gegner gehofft und gewartet hat; weil sich die Unzufriedenheit in der Körpersprache widerspiegelt - ob man will oder nicht.

Sich aus genau solchen Momenten immer wieder aufs Neue selbst zu befreien und herauszuziehen, neu zu fokussieren und beim Matchball die ‚Angst vor der eigenen Courage‘ zu überwinden - darum geht es.

Das Spiel mit dem Publikum

Und wenn es nicht klappt? Wenn zehn Prozent von der einen auf die andere Seite wechseln, sind das bereits 20 Prozent – und das Momentum droht zu kippen. Urplötzlich hat man es mit drei Gegnern zu tun: Deinem Gegenüber, und vor allem mit Dir selbst! Ja vielleicht sogar noch mit einem dritten: Dem Publikum. Wenn man der Djokovic-Typ ist.

Denn auch die Stimmung auf den Rängen wird nun zu einem Faktor.

Im Gegensatz zum Fußball gibt es beim Tennis keine Nord-, Süd- oder Ostkurve; keine Ultras, die ihre Mannschaft 90 Minuten lang nach vorne peitschen.

Das Publikum in Wimbledon – oder die 20.000 Zuschauer im Arthur Ashe Stadium (US Open/New York) oder 16.000 im Roland Garros (French Open/Paris) – sympathisiert meist mit dem vermeintlichen Underdog und möchte einen Kampf über fünf Sätze sehen. Je länger desto besser! Und umso mehr, wenn dann auf dem Court einer steht, der aneckt, der den Anforderungen an ein Vorbild nicht immer genügt. Eine*r, die/der gerne mal provoziert, polarisiert und das Publikum gegen sich aufbringt – auch abseits der Arena – und damit kokettiert, spielt sogar. Und der daraus noch einmal ein zusätzliches Quäntchen Motivation zieht. Dem die Nerven dann keinen Streich spielen. Eine Graf, Williams, Navratilova, ein Federer, Nadal. Echte Champions. Auch ein Enfant Terrible wie Djokovic beispielsweise.

Ungeachtet seiner mitunter fragwürdigen Verhaltens- und Sichtweisen, wenn er den Schläger nicht in der Hand hält, verkörpert er auf dem Platz jenen Typ, nachdem in Sportdeutschland zunehmend gefahndet wird, steht der Grand-Slam-König für diesen Typus, dem das eigene Talent nicht am Ende sogar im Wege steht: Eine*n Sportler*in, die/der nicht untergeht im Ausbildungs-Einheitsbrei mancher Vereine und Verbände. Sondern ein eigenes, geschärftes Profil hat. Und den Drive und den Spirit, die Big Points zu machen.

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