Im Interview: Physiotherapeut Jens Brünjes über Therapeutisches Klettern (TK) Jens Brünjes; Haltungskorrektur an der Kletterwand. Jens Brünjes (li) bei der Arbeit mit einer Patientin.

Im Interview: Physiotherapeut Jens Brünjes über Therapeutisches Klettern (TK)

„Therapeutisches Klettern kann vielseitig und effektiv eingesetzt werden“, sagt Physiotherapeut Jens Brünjes. Er selbst bildet Therapeuten für therapeutisches Klettern aus und hat mit uns über diese Behandlungsalternative gesprochen.
Klettern erlebt seit einigen Jahren einen enormen Boom. Immer mehr Kletter- und Boulderhallen werden eröffnet. Boulderhallen seien die neuen Fitnessstudios, hat Kletterlegende Stefan Glowacz vor kurzem in einem Interview gesagt. Aber auch und gerade in der Reha kann Klettern eine gute Alternative zu traditionellen Therapien sein. Physiotherapeut Jens Brünjes erklärt, warum.

netzathleten.de: Klettern ist nicht gleich Klettern. Worin unterscheidet sich therapeutisches Klettern von Klettern am Fels oder in der Halle?
Jens Brünjes: Der große Unterschied besteht in erster Linie darin, dass das Setting beim therapeutischen Klettern steuerbar gemacht werden muss. Und natürlich muss man auf das konkrete Krankheitsbild, die Indikation des Patienten eingehen.

netzathleten.de: Wie gelingt eben diese Anpassung?
Jens Brünjes: Wir versuchen, das Ganze von der wissenschaftlichen und physiotherapeutischen Seite her zu betrachten und in Angriff zu nehmen. Das sieht dann also so aus, dass wir verstellbare Wände haben und spezifisch-therapeutische Tritte und Griffe. Diese Komponenten müssen so justierbar sein, dass sie eben eher den Schultergürtel ansprechen können oder eher die unteren Körperregionen. Ein Beispiel: Will ich etwa den Schultergürtel ansprechen, muss ich eher in den negativen Überhang gehen. Habe ich aber einen Patienten nach einer Kreuzbandplastik-OP, dann werde ich erstmal im positiven Überhang, also einer leicht schrägen Ebene, arbeiten.

netzathleten.de: Und inwiefern unterscheiden sich die Tritte und Griffe von „normalen“ Klettergriffen?
Jens Brünjes: Es gibt Patienten, die brauchen in erster Linie Sicherheit. Beispielsweise Parkinsonpatienten oder jemand, der eine Struktur nach einer OP gerade erst wieder belasten kann. Dafür haben wir Tritte mit einer Tiefe von maximal 15 Zentimetern. Das sind so große Tritte, dass der Patient auf ihnen mit dem gesamten Vorfuß stehen kann. Außerdem gibt es ergonomische Griffe, die man in verschiedenen Handhaltungen greifen kann. Je nach Leistungszustand des Patienten können die Tritte und Griffe natürlich auch immer kleiner gewählt und der Überhang stärker eingestellt werden.

netzathleten.de: Wie weit kann man das Training steigern?
Jens Brünjes: Das geht bis zur  Medizinischen Trainingstherapie, kurz MTT. Da geht es dann auch um Wiederholungszahl, Haltedauer, Belastungsumfang; also Belastungsparameter, die auch von der Trainingsspezifik her wichtig sind. Will ich erstmal die Bewegung wieder anbahnen? Will ich den Muskel aufbauen? Will ich ein richtiges Hypotrophietraining machen? Generell ist es wichtig, einen dokumentierbaren Behandlungsverlauf und eine Progression beim therapeutischen Klettern zu erreichen. Somit kann ich einen Anfangsbefund und einen Endbefund machen und dem Patienten zeigen, wo er steht und was er geschafft hat. Man hat einen Patienten von Anfang an bis zum Erfolg der Therapie begleitet.

netzathleten.de: Wie sieht dann konkret therapeutisches Klettern aus?
Jens Brünjes: Wir versuchen das therapeutische Klettern derart aufzubauen, dass wir sagen: es muss steuerbar sein, es muss Spaß machen, aber eben auch eine konkrete Struktur haben. Und das nicht nur allgemein, sondern schon bei den einzelnen Kletterbewegungen. Das heißt der Patient bekommt konkrete Aufgaben, beispielsweise „schräg aufsteigen nach links“ oder „diese Position für 90 Sekunden halten“ oder „in dieser Position nur den Schultergürtel anspannen“. Während der Patient an der Kletterwand ist, ist meine Aufgabe als Therapeut, den Patienten zu korrigieren, anzuleiten, ihm zu assistieren, Bewegungen vorzumachen. Das ist nach unserem Verständnis im Sinne des Potsdamer Modells therapeutisches Klettern. Im Vergleich zum Sportklettern, bei dem sehr viel intuitiv abläuft und viele freie Bewegungen ausgeführt werden, ist beim therapeutischen Klettern alles viel strukturierter.

netzathleten.de: Gibt es Kontraindikationen? Wann sollte man therapeutisches Klettern nicht ausführen?
Jens Brünjes: Es gibt im Grunde nur zwei wirkliche Kontraindikationen. Die erste ist Schmerz während der Bewegung. Die zweite ist eine sehr starke Osteoporose. Ansonsten kann ich aufgrund der Steuerbarkeit das therapeutische Klettern so leicht gestalten, dass es praktisch keine Kontraindikation mehr gibt. Natürlich muss ich als Therapeut genau dosieren, wie ich die Wand einstelle, welche Griffe ich wähle und so weiter.

netzathleten.de: Das heißt also, dass man Klettern als Therapie bei fast allen Beschwerden einsetzen kann?
Jens Brünjes: Genau. Und das geht vom Parkinsonpatienten bis zu Kindern mit ADHS. Ein ganz wichtiger Punkt des therapeutischen Kletterns ist sein Motivationscharakter. Viele Patienten, die ich sonst schwer zur Mitarbeit motivieren kann, kriege ich über das Klettern. Gerade in der Parkinsonbehandlung gibt es inzwischen auch große neurologische Kliniken, die auf therapeutisches Klettern aufmerksam werden. Es ist also nicht nur aus orthopädischer Sicht eine Therapiemöglichkeit zum Kraftaufbau, sondern auch relevant in den Bereichen Koordination, neurologische Förderung und pädiatrische Förderung in Bezug auf Kinder.

netzathleten.de: Worin liegt konkret der Vorteil des therapeutischen Kletterns auch im Vergleich zu anderen, etablierten Behandlungsmethoden?
Jens Brünjes: In erster Linie ist die Kletterwand einfach mal ein neues Gerät mit Aufforderungscharakter. Es bietet eine hohe Motivationslage auch bei älteren Erwachsenen, bei Kindern sowieso. Das sind die psychologischen Vorteile. Und dann gibt es auch welche auf physiologischer Seite. Man arbeitet über die geschlossene Kette, also gelenkschonend, aber nicht am Boden. Das heißt man aktiviert die kompletten dorsalen Muskelketten im Körper. In Bezug auf die Wirbelsäule ist besonders, dass wir beim therapeutischen Klettern immer Druck und Zug auf sie ausüben. Man hat eine Belastung und Entlastung der Wirbelsäule, Traktion und Kompression wechseln sich ab.

netzathleten.de: Und welche Trainingseffekte erreicht man?
Jens Brünjes: Es werden Konzentration, Koordination – Hand-Auge- sowie Hand-Fuß-Koordination –, Bewegungsplanung, Körpergefühl, Kraft und Kraftausdauer trainiert. Das sind die Big Points.

netzathleten.de: Kann jeder therapeutisches Klettern anbieten?
Jens Brünjes: Im Prinzip ja. Es ist aber dabei natürlich wichtig, dass der Therapeut zuvor entsprechend geschult wird und diese Ausbildung auf einem hohen Niveau liegt.

netzathleten.de: Und wie sieht es mit dem Platz aus? Passt eine Kletterwand für therapeutisches Klettern in jede Praxis?
Jens Brünjes: Insgesamt braucht eine solche Kletterwand nicht viel Platz. Für das Physioclimb-System, das wir verwenden, sollte die minimale Raumhöhe etwa bei 2,60 Meter liegen. Die Breite der Kletterwand sollte auch wenigstens 2,50 Meter betragen. Von der Tiefe her braucht das System ähnlich viel Platz wie eine herkömmliche Sprossenwand. Es gibt also Systeme, die keinerlei Umbaumaßnahmen erfordern, sondern bei denen die Wände als ein Gerät angeboten werden.

netzathleten.de: Vielen Dank für das Gespräch.

Unser Interviewpartner

Jens Brünjes arbeitet in seiner Praxis schwerpunktmäßig täglich mit Therapeutischem Klettern. Er berät diesbezüglich Praxen und Reha-Zentren und arbeitet eng mit Dr. René Kittel von der Universität Potsdam zusammen, der das Potsdamer Modell entwickelt hat. Gemeinsam mit Dr. Kittel entwickelt Brünjes die Therapie- und Fortbildungsinhalte stetig weiter. Eine Qualitätssicherung findet regelmäßig im Kompetenzteam Therapeutisches Klettern (KTTK) statt, dessen Gründungsmitglieder Dr. Kittel und Brünjes sind. Weitere Informationen zum Therapeutischen Klettern, der Ausbildung und zu unserem Interviewpartner Jens Brünjes gibt es unter: http://www.theraboulder.de/


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