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Rollstuhlbasketball-Coach Holger Glinicki im Interview

  • Tanja Maruschke
Holger Glinicki kann man in Sachen Rollstuhlbasketball nichts vormachen und auch zum großen Thema Inklusion hat er eine entspannte Haltung. Die Europameisterschaft steht an – doch er wirkt gelassen. Im Interview erzählt der Trainer der deutschen Rollstuhlbasketball-Nationalmannschaft von seinem Leben, dem Basketball und seinen Erwartungen bezüglich der EM.

„Wenn wir mit der Bahn zu Auswärtsspielen fahren, hat es einen praktischen Vorteil, die Fußgänger dabei zu haben – sie können unsere Rollstühle einladen“, sagt Glinicki. Seine Mundwinkel zucken dabei kein bisschen. War ja auch nicht als Scherz gemeint.

Der Spielbetrieb im Rollstuhlbasketball ist nur durch das Miteinander Behinderter und Nichtbehinderter aufrecht zu erhalten. Deswegen werden „Fußgänger“ oder Minimalbehinderte (etwa mit Kreuzband- oder Knorpelschäden) mit einem handicap von bis zu fünf Punkten klassifiziert. Die aus fünf Spielern bestehende Mannschaft darf addiert nicht mehr als 14,5 Klassifizierungspunkte haben, wenn sie auf Feld rollt. Inklusion als Rechenaufgabe, in jedem Training, jedem Spiel. Für einen Mann wie Glinicki längst Alltag. Er sagt: „Wir haben seit 20 Jahren gelebte Inklusion im Rollstuhlbasketball. Hier redet keiner mehr drüber. Wir machen es einfach.“

Holger Glinicki trainiert die deutsche Rollstuhlbasketballmannschaft der Damen im sechsten Jahr. Seit einem Motorradunfall 1972 ist er auf den Rollstuhl angewiesen. Die teils überbordende und begrifflich allzu vorsichtig geführte Diskussion um die Teilhabe von Menschen mit Behinderung am Sport solcher ohne Behinderung, amüsiert ihn. Es sei ja auch eine Art Inklusion, dass in der Bundesliga gemischte Mannschaften spielen, also Männer und Frauen zusammen, um überhaupt genug teilnehmende Vereine zu bekommen. „Durch dieses Miteinander wird unsere Frauen-Nationalmannschaft stetig besser“, sagte der 59 Jahre alte Fachmann lächelnd. „es pusht sie, neben guten Männern zu spielen.“ Spielbestimmende Figuren sind die Center – in diese Rolle schlüpfen bei fast allen Bundesliga-Mannschaften nicht- oder minimalbehinderte Männer mit Basketballerfahrung. In Glinickis Frauenteam spielt die am Kreuzband lädierte Kölnerin Marina Mohnen (4,5 Klassifizierungspunkte) auf der Center-Position; sie ist seine Kapitänin und regelmäßig beste Schützin.

Dass die deutsche Auswahl immer besser wird, will sie bei der Samstag beginnenden Europameisterschaft in Frankfurt nachweisen. Alles läuft auf ein Finale gegen die Niederlande hinaus. Glinicki sperrt sich nicht gegen die Favoritenrolle. Er erwartet schon deswegen dass Erreichen des Endspiels, weil es am 6. Juli ab 15 Uhr live in der ARD übertragen wird. Beim letzten Test vor dem Turnier überzeugte der Titelverteidiger: Glinickis Team schlug Kanada am Sonntag in Harburg 86:36.

Glinicki vertraut dem Kader, der im September 2012 die Goldmedaille bei den Paralympics gewann. Erfahren ist seine Mannschaft, sie verlässt sich auf ihre Geschlossenheit. Glinicki selbst ist jemand, dem man sich gern anvertraut: ruhig, gesprächsbereit, kompetent mit der Erfahrung von mehr als 30 Jahren Rollstuhlbasketball. „Er ist eine Autorität. Chef, aber auch Kumpel. Er versteht viele Sachen besser, weil er selbst im Rollstuhl sitzt“, urteilt eine seiner wichtigsten Spielerinnen, die Defensivspezialistin Edina Müller vom Hamburger SV. Viele Spitzentrainer im Rollstuhlbasketball sitzen übrigens im Rollstuhl. Seine Doppelrolle als viel beschäftigter, dauerreisender National- und Vereinstrainer reicht Glinicki nicht, um ein Auskommen zu haben. Also arbeitet er im Hauptberuf bei der Hamburger Umweltbehörde. An der Seitenlinie gilt er als Mann, der auf jede Aufstellung und jede Taktik des Gegners eine Antwort weiß.

An viele Dinge als Hauptdarsteller im Behindertensport hat er sich gewöhnt. Dass sein Sprung in die Themse nach dem gewonnenen Finale von London mehr Schlagzeilen produzierte als der Sieg an sich: darüber lacht Holger Glinicki. Zuletzt hat er erfreuliche Veränderungen wahrgenommen. Früher habe allein die Geschichte im Vordergrund gestanden, warum jemand im Rollstuhl sitze, wie das sein Leben verändert habe, und ob der Sport vor allem Therapie sei. „Es sollte möglichst rührselig sein“, sagt er. In London dann sei die „Hauptgeschichte“ der Sport gewesen. „Ich hatte das Gefühl, dass die Stimmung bei den Paralympics besser war als bei den Olympischen Spielen“, sagt Glinicki. „Die Leute sind hingegangen, um Rollstuhlbasketball zu gucken. Nicht um Behinderte zu sehen.“ Das wünscht er sich auch für die Tage von Frankfurt.

Glinicki wirkt gelassen. Schmunzelnd kann er erzählen, wie groß Behindertentoiletten in deutschen Einkaufszentren seien: „Man könnte mit einem LKW reinfahren, aber es gibt nur eine einzige auf vier Passagen.“ In den USA hingegen sei selbst in der entlegensten Gegend immer ein Behinderten-WC vorhanden. „Toilette heißt dort automatisch: auch für Behinderte. Und ein besonderes Schild gibt es nicht für uns.“ Mehr Normalität im Umgang mit seinesgleichen, weniger Scheu, das wünscht sich der Bundestrainer.

Er selbst möchte vom Erfolg seiner Nationalmannschaft profitieren. Der HSV soll bald um Meisterschaften mitspielen, soll so gut werden wie das deutsche Topteam RSV Lahn-Dill aus Wetzlar – wo 2000 Fans zu den Heimspielen kommen, nicht 70, wie in Hamburg-Wandsbek. Glinicki will in einer Szene, die sich zunehmend professionalisiert, um ausländische Stars wirbt und Etats aufstellt, aus denen Profis bezahlt werden können, nicht mehr hinterherlaufen. Der Hamburger Sportsenator Michael Neumann (SPD) hat Rollstuhlbasketball in die Riege der Schwerpunktsportarten aufgenommen. Der HSV liebäugelt mit einem Umzug nach Wilhelmsburg. Dort soll der hiesige Rollstuhlbasketball eine Heimat modernster Prägung bekommen. Klar ist schon, dass die Nationalspielerinnen Gesche Schünemann und Anika Zeyen aus Gießen und Bonn nach der EM zum HSV wechseln. „2015 wollen wir Deutscher Meister werden“, sagt Glinicki. Mit dem erhofften neuen Trainingszentrum könnten zudem Talente des norddeutschen Raumes nach Hamburg gelockt werden. Mehr Konzentration: Das täte auch der Nationalmannschaft gut. Damit es in Rio ähnlich läuft wie in London.

Autor: Frank Heike

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