„Auf einmal machts Peng“ – Interview mit Wolfgang Sacher picture-alliance

„Auf einmal machts Peng“ – Interview mit Wolfgang Sacher

  • Nils Borgstedt
Wolfgang Sacher, Bronze-, Silber- und Goldmedaillengewinner bei den Paralympics in Peking 2008, ist einer der erfolgreichsten Deutschen Radsportler mit Körperbehinderung. Im netzathleten-Interview spricht er über seinen tragischen Unfall, bei dem er einen Arm und mehrere Zehen verloren hat, die Zeit danach und wie er sich wieder ins Leben zurückgekämpft hat.

Netzathleten: Mit 16 hattest du ja deinen schlimmen Unfall, bei dem du den linken Arm und die Zehen am rechten Fuß verloren hast. Was war passiert?
Nach der Arbeit, ich hatte schon um 15 Uhr Feierabend, wollte ich eigentlich mit meinem Bruder ein Video gucken. Auf dem Weg zu ihm haben wir aber meine Freunde getroffen und die haben mich gefragt, ob wir nicht etwas zusammen machen wollen. Schließlich sagte mein Bruder: „Ach, hau ab, wir schauen den Film wann anders an.“ Ich bin also mit den andern mit und wir sind in Penzberg zum Güterbahnhof. Da standen ausrangierte Waggons zum abwracken. Durch die sind wir zuerst durchgegangen und am Ende von der Wagonreihe sind wir dann aufs Dach geklettert. Dann sind wir wie die Cowboys von Dach zu Dach gesprungen. Bei einem Sprung bin ich aufgrund meiner Größe mit der linken Hand in das Spannungsfeld der 16.000 Volt-Leitung gekommen. Dann hat‘s geblitzt, mein Anorak ist auf einen Schlag verbrannt, der Strom ist durch den Körper durch, meine Schuhe sind explodiert und ich bin kopfüber vom Wagon gefallen. Es hat mich weg geschleudert, als würde mir ein Riese eine Watsch‘n geben. Da lag ich dann mit vollem Bewusstsein. Ich habe gehört, wie meine Freunde geweint haben und wie der Sanitäter gekommen ist. Aber ich konnte mich nicht mehr bewegen. Ich war wie gelähmt. Der Sanitäter hat mich noch gefragt, ob ich meine Füße bewegen kann und ich habe ihm „Nein“ geantwortet. Ab diesem Zeitpunkt weiß ich nichts mehr und bin dann erst zwei Wochen Später in Großhadern auf der Intensivstation aufgewacht. Da war der Arm schon amputiert und die Beine waren eingewickelt.

Netzathleten: Wie war die Zeit direkt nach dem Unfall für dich?
Ich war damals total am Boden zerstört. Als der Unfall passierte, war ich ein junger Bursche. Ich habe gerne Fußball gespielt, habe gerade meinen Mopedführerschein gemacht, hatte gerade meine Lehre als Maschinenschlosser angefangen – das hat mir alles super gefallen. Und auf einmal macht‘s Peng und alles ist vorbei. Durch den Unfall habe ich rechts alle Zehen verloren und auch der linke Fuß wurde stark in Mitleidenschaft gezogen. Dort musste eine Hautverpflanzung gemacht werden, sodass ich also nicht mehr richtig laufen konnte. Ich war total deprimiert. Als 16-Jähriger denkt man dann „Du kriegst ja keine Freundin mehr, so wie du aussiehst.“ Deshalb habe ich einige Jahre sehr viel getrunken, ich habe brutal viel Alkohol in mich hineingeschüttet, damit ich darüber hinwegkomme. Ich hatte absolut keine Lust mehr zu leben. Außerdem habe ich von 50 auf 107 Kilo zugenommen.

Netzathleten: Wie hast du dich aus diesem Tief wieder befreit und dich zum erfolgreichsten Handicap-Radsportler hochgearbeitet?
Eigentlich hätte ich vom Arbeitsamt her eine Umschulung machen sollen. Aber ich wollte mir von denen keinen Beruf aufdrücken lassen. Ich hab mich selbst bei der Stadt Penzberg beworben und zu meinem Glück hat genau in diesem Moment der Fußballer Wiggerl Kögel (Ludwig Kögel, Anm. der Red.) einen Profivertrag vom FC Bayern erhalten und deshalb seine Lehre als Verwaltungsangestellter abgebrochen, sodass ich seine Lehrstelle übernehmen konnte. Während der Ausbildung habe ich meine jetzige Frau kennengelernt. Das war eine ganz witzige Geschichte. Wir haben im Standesamt gearbeitet und saßen auf den Stühlen, auf denen normaler Weise immer die Verlobten sitzen. Als uns der Standesbeamte fragte, wann wir denn heiraten würden hat meine Frau gesagt: „Wenn der Wolfgang 25 Kilo abnimmt.“ Ich habe mir dann überlegt, wie ich das am besten schaffen kann, habe Alkohol weggelassen, habe mich sportlich betätigt – auch ein bisschen mit Radfahren. Auch der Dok hat mir gesagt, wenn ich so weiter sauf, dann geht’s mit mir den Bach runter, dann werde ich nicht alt.


Netzathleten: Und wie kamst du dann zum Radsport?
Ich habe schon immer alles mit 150 Prozent gemacht, mit einem wahnsinnigen Ehrgeiz. Auch beruflich, habe Fortbildungen gemacht und ähnliches. Da habe ich eigentlich nie Zeit zum Radfahren gehabt. 2001 bin ich beim Arber-Marathon in Regensburg mitgefahren und wurde von einem anderen aktiven Fahrer, Norbert Ippisch, angesprochen, ob ich nicht mal bei den Behindertensportlern mitfahren möchte. Ich habe damals abgelehnt und gemeint, ich fahre bloß ein bisschen für mich. Mehr hat mich nicht interessiert. Ein paar Jahre später habe ich immer mehr Ehrgeiz entwickelt und mir gedacht, „ja, jetzt könnte ich eigentlich mitfahren.“ Als ich 2005 richtig angefangen habe, haben mir die anderen von Athen erzählt: „Mensch, bei den Paralympics, da musst du einmal dabei sein. Das ist Wahnsinn. Und wenn du eine Medaille gewinnst, dann bist du der King, dann wirst du überall eingeladen.“ Seitdem stand für mich fest: da muss ich hin. Ich habe mir einen Trainer genommen, und habe richtig hart trainiert.

Netzathleten: und das mit Erfolg. Bei den Paralympics in Peking hast du Bronze, Silber und Gold geholt. Zudem bist du Weltmeister und hast zahlreiche andere Titel gewonnen. Mehr geht fast nicht. Hast du danach schon mal ans Aufhören gedacht?

Das haben die ersten schon nach meiner ersten WM 2006 gefragt. Da hat es gleich Bilderbuchmäßig angefangen mit Bronze auf der Bahn, Silber im Zeitfahren und Gold im Straßenrennen. Aber da war ich gerade in meiner ersten richtigen Saison und hab gesagt: „Mensch, solange mir das Radlfahren Spaß macht, mache ich auch weiter.“ Nach Peking war es das Gleiche. Mit drei Medaillen war ich der erfolgreichste Radsportler. Aber mir macht das Radfahren noch so viel Spaß und ich habe mit dem Radfahren soviel kennen gelernt, da gibt’s kein Aufhören. Vor allem in Peking habe ich besondere Menschen gesehen, die noch viel stärker behindert sind als ich und die sich wahnsinnig freuen, einmal bei den Paralympics dabei zu sein. Da waren Rollstuhlfahrer, die nur noch den kleinen Finger bewegen konnten und trotzdem konnte jeder lachen. Ich möchte diese Eindrücke solange mitnehmen, solange es noch geht. Mein Ziel ist auf jeden Fall London 2012. Außerdem möchte ich dadurch, dass ich weitermache, anderen Mut machen und zeige: es geht noch weiter. Und gerade Sport kann einem in dieser Beziehung sehr viel geben. Ich mache weiter, auch wenn ich nicht mehr so erfolgreich bin. Nach London 2012 ist für mich die Karriere beendet. Mit 46 bin ich dann einfach zu alt. Ich habe einfach zu spät angefangen.

Netzathleten: Kommen wir zum „Tagesgeschäft“. Einarmig Fahrradfahren ist ja nicht unbedingt besonders sicher, jedenfalls nicht für Menschen mit zwei Armen. Man ist wackeliger unterwegs. Welche besonderen Ansprüche muss dein Fahrrad erfüllen?
Natürlich muss das Fahrrad besonders sein. Mein Bruder Mario ist Maschinenschlosser und Werkzeugmacher-Meister und passt mir meine Räder immer entsprechend an. Er hat meine Bremsen und Gangschaltung so umgebaut, dass ich alles mit einer Hand bedienen kann. Also fahren mit einem Standardrad würde gar nicht gehen. Im Grunde brauche ich eine Spezialanfertigung, und das macht alles mein Bruder. Der ist ein richtiger Feintuner und arbeitet richtig gut.

Netzathleten: Und du selbst…
Es hat Jahre gedauert, bis ich mich getraut habe richtig Gas zugeben und bis ich das Gleichgewicht gut genug halten konnte. Probleme gibt’s hauptsächlich beim schnellen Abbremsen mit einer Hand, weil es dich einfach vom Sattel zieht, wenn du richtig bremst. Und dann fällst du kopfüber nach vorne. Nach und nach habe ich dafür eine spezielle Technik entwickelt, wie ich mich am besten stabilisiere. Ich rutsche zum Beispiel mit dem Po immer bisschen hinter den Sattel und kann dadurch schon einiges abfangen. Trotzdem braucht man ein gutes Gespür für Gleichgewicht und Bremsen. Das muss einfach zusammenpassen. Bei der Einrichtung der Bremsen hat mir mein Bruder eben sehr geholfen. Und das hat sich sehr bewährt seitdem ich das Radfahren so halbprofimäßig betreibe…

Netzathleten: Was heißt Halbprofi – immerhin hast du bei den Paralympics drei Medaillen abgeräumt, hast einen eigenen Trainer und isst nach Ernährungsplan…
Aber trotzdem muss ich ganztags arbeiten. (Lacht)


Netzathleten: Man kann also nicht wirklich vom Radfahren leben, oder?
Nein, bei uns im Behindertensport nicht. Die Unterstützung von der Sporthilfe ist aber schon viel besser als früher. Dafür muss man schon dankbar sein. Es gibt ja seit einiger Zeit die Top Team Regelung, die die Förderung von Spitzensportlern im Hinblick auf Paralympische Spiele zur Aufgabe hat. Nach 2008 bin ich jetzt auch im Top Team für die Paralympics 2012 in London und dadurch werde ich einen Tag in der Woche von der Arbeit freigestellt und die Sporthilfe zahlt das meinem Arbeitgeber. Das ist natürlich super. Aber im internationalen Vergleich ist das immer noch ein Schritt zu wenig. In Peking beispielsweise sind wir in der Nationenwertung zurückgefallen. Das hat den Grund, dass andere Nationen den Behindertensport in den normalen Sportbetrieb integrieren. In England zum Beispiel sind auch die Behindertensportler Vollprofis. Sie haben entsprechende private Sponsoren, die das unterstützen. Dadurch wird es für uns schwerer gegen solche Profis anzutreten, denn letztlich sind doch Training und Trainingsumfang entscheidend. Und wenn man 40 Stunden, oder wie ich 32 Stunden, in der Woche arbeiten muss, dann fehlt dir einfach eine ganze Menge im Vergleich zu den anderen. Für mich, der ja jetzt doch schon etwas älter ist, käme eine reine Profikarriere zwar sowieso nicht mehr in Frage, aber für die Jungen wäre es schon schön, wenn sie mehr gefördert würden, damit sie national und vor allem international eine Chance haben.

Netzathleten: Was kann man also deiner Meinung nach im Behindertensport besser machen?
Für den Behindertensport selber würde ich mir wünschen, dass mehr Jugendarbeit geleistet wird und wenn mehr Nachwuchssportler für den Radsport begeistert werden würden. Förderung ist vor allem wichtig, wenn es um die duale Karriere geht, dass man also Sport und Arbeit besser vereinen kann. Dadurch würden die Perspektiven der Sportler enorm verbessert, weil ein besseres Training möglich wäre. International ist das schon der Fall. Eine Integration des Behindertensports in den normalen Sport wäre auch wünschenswert. In England zum Beispiel sponsert der Fernsehsender Sky-Channel bis 2012 British Cycling, in der Behindertensportler und „normale“ vereinigt sind, mit 23 Millionen Pfund. Das ist Wahnsinn! Im Vergleich: unsere Radsportabteilung hat in diesem Jahr ein Budget von 60.000 Euro. Und da sind alle Radsportler dabei, also die Handbiker, die Querschnittsgelähmten, die Dreiradfahrer und alle Zweiradfahrer. Da bleibt dann nicht viel für den Einzelnen übrig. Auch für unsere Materialkosten müssen wir überwiegend selbst aufkommen.

Netzathleten: Wie hoch liegen die Kosten fürs Material? Und was kostet dann so eine Spezialanfertigung für dich?
Also mein Straßenrennrad liegt bei 6.000 Euro. Und wenn man stürzt, so wie ich vor Peking, dann muss man das danach selbst wieder aufbringen. Vor allem bei den Jungen, die gerade erst anfangen, ist das problematisch. Wenn man sich ein Rennrad und eine Zeitfahrmaschine kaufen muss, die mittlerweile auch bei 10.000 Euro liegt, dazu möglicherweise noch ein Bahnrad, dann ist das für die jungen Leute und ihre Eltern eigentlich unmöglich. Da müsste der Verband einem viel mehr Material zur Seite stellen und sagen: „hier, probier es mal aus, schmeck mal rein in die Sportart.“ Und dann wird es mit entsprechenden Erfolgen und Sponsoren leichter für den Sportler, diese Kosten zu bewältigen.

Netzathleten: Jetzt haben wir ja schon einiges über die Probleme des einarmigen Radfahrens gehört. Bleibt zum Abschluss noch eine Frage zu beantworten, um sich die Problematik besser vorstellen zu können: mit wie viel km/h bist du denn auf dem Rennrad ungefähr unterwegs?
Mein „Rekord“ liegt bei 90 km/h bergab. Das war bei einem Transalp den ich gefahren bin. Aber das war schon grenzwertig. Im Zielsprint sind wir mit cirka 60 km/h unterwegs. 50 auf der Ebene zu fahren ist für mich kein Problem.

Netzathleten: Wolfgang vielen Dank für das nette Gespräch und viel Erfolg bei der Bahnrad-WM in Manchester am kommenden Wochenende.

Das Interview führte Nils Borgstedt

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