Eierlegende Wollmilchsau und Aushängeschild des deutschen Handballs: Weshalb der ehemalige Sportvorstand des Deutschen Meisters aus Berlin bis zu seinem dortigen ‚Aus‘ mediale Grenzen überschreiten durfte, ja sogar musste. Und warum das Selbstverständnis der traditionsreichen olympischen Hallensportart Einfluss auf andere Disziplinen im Umgang mit Medienkooperationen haben kann: Bleibt die nötige Distanz gewahrt?
Erbauliche Zwischenbilanz, steile Visionen: So hatte sich Handball-Streaming-Sender DYN jüngst im Münchner Presseclub den Medienvertretern im Spätsommer präsentiert. In der dritten Saison, in der DYN, BILD/SPORT-BILD und die Handball-Bundesliga (HBL) gemeinsame Sache machen, werde die nächste Entwicklungsstufe gezündet, so DYN-Chef Christian Seifert. Handball, sagt der EX-DFL-Boss, starte gerade erst so richtig durch. DYN (gehört wie BILD und SPORT BILD mehrheitlich zu Axel Springer) hat sein Rechte-Portfolio im Handball-Segment immer weiter ausgebaut – da darf man durchaus groß denken und selbstbewusst auftreten.
Handball – eine olympische Paradedisziplin. Tradition mit Aufbruch gepaart. Rund eine Dreiviertelmillion Mitglieder*innen zählt der Deutsche Handballbund (DHB). Er ist damit der global größte Handball-Dachverband. Die Liga hierzulande die „stärkste der Welt“. Da lässt sich gut und laut trommeln. Allerdings hätte die große Info-Show von München weit weniger Glamour verbreitet, wenn nicht er auf dem Podium gesessen hätte: Stefan Kretzschmar, zum Zeitpunkt des Events noch Sport-Vorstand des Deutschen Meisters Füchse Berlin und Aushängeschild mehrerer DYN-Formate. Das Gesicht seiner Sportart schlechthin.
Der ehemalige Weltklassespieler – in München schon mit dem „Beckenbauer des Handballs“ verglichen – verkörpert alles, was der Handball für seine Außendarstellung braucht. Und gleichzeitig eines seiner erheblichsten Probleme: Die Königin unter den internationalen Eliteligen hat trotz sportlicher Größen wie Mathias Gidsel, Johannes Golla oder Julian Köster nur einen bundesweiten Medienstar, nur eine echte Zugmaschine: Stefan Kretzschmar. Für öffentliche Aufmerksamkeit ist der 52jährige unverzichtbar. Einst MTV-Moderator und seit Jahren TV-Experte, lockt der ehemalige ‚Handball-Punk‘ das Publikum an. Auch in München war er der Medienmagnet. Hatte die größte Strahlkraft. Ob er wollte, oder nicht.
Infotainer in Doppelfunktion: Die HBL bleibt entspannt
‚Kretzsche‘ versteht sich darin, öffentliche Person zu sein. Muss er auch, denn: Diesen Status wird er eh nicht mehr los. Noch heute glauben selbst Handballfans, Kretzschmar habe 2007 beim ‚Wintermärchen‘ in Deutschland den WM-Titel geholt. Seine mitunter grenzwertige Doppelrolle – Füchse-Funktionär und DYN-Experte – wurde in der Szene trotz einiger Befindlichkeiten hinter den Kulissen mehr als toleriert. Sie war gewünscht. Von DYN sowieso. Von der Liga. Von den Füchsen. Von den Medien. Obwohl ihm, wie er noch kurz vor dem jähen Ende beim Hauptstadtklub „bewusst ist, dass die Vermischung etwas delikat ist – oder es zumindest sein könnte, wenn ich nicht achtgebe“.

Man stelle sich vor: Bayern Münchens Sportvorstand Max Eberl würde in einer eigens für ihn geschaffenen TV-Show als ‚Infotainer‘ wöchentlich über die Konkurrenz sprechen, wie es Kretzschmar beispielsweise in den DYN-Talkformaten ‚Kretzsche und Schmiso‘ oder ‚Harzblut‘ tut. Die Fußballszene würde vermutlich aufschreien. Denn: Zunächst ist ja nicht umstritten, was da jemand von sich gibt – sondern dass da jemand überhaupt was von sich gibt in einer solchen Doppelrolle. Die Handballbranche indes orientierte sich schlicht an der Rentabilität ihrer schärfsten PR-Waffe. Selbst wenn hier und da Kritik aufkam – die Kretzschmar allerdings nur selten von vorne begegnete.
HBL-Geschäftsführer Frank Bohmann mochte sich wenige Tage vor dem großen Knall in Berlin auf eine emotionale Debatte darüber nicht einlassen. Er äußerte sich betont unaufgeregt: „Dieser Sachverhalt liegt ja schon vor, seit Kretzsche Füchse-Sportdirektor ist. Davor war er auch bereits journalistisch tätig und Vorstand in Leipzig oder auch Angestellter des SC Magdeburg. Ob er hier zu Gunsten seines jeweiligen Clubs irgendwie Einfluss genommen hat, kann ich nicht beurteilen und wir sind nicht in der Lage hier in die eine oder andere Richtung Berufsverbote auszusprechen.“ Kretzschmar sei nicht der einzige in einer solchen Doppelfunktion, daher sei es „schwierig, Grenzen zu setzen“. Er sagt aber auch: „Sollte es einen konkreten Vorfall geben, wo Stefan einen wettbewerbseingreifenden Punkt gemacht hat, hätten wir möglicherweise einen anderen Case.“
Zunächst hat sich das potenzielle Problem erledigt: Nachdem sich Kretzschmar an der Seite des ebenfalls entlassenen Meistertrainers Jaron Siewert mit dem mächtigen ‚Füchse-Macher‘ Bob Hanning im Zuge schleppender oder gar verschleppter Vertragsgespräche überworfen hatte – zunächst hatte ‚Kretzsche‘ nur seine Demission zum Saisonende angekündigt, dann musste er gemeinsam mit dem verdutzten Coach sofort gehen –, ist der ehemailge Weltklasse-Linksaußen nur noch Frontmann, kein Funktionär mehr. Vorerst …
Pragmatische Rechnung: Medialer Mehrgewinn größer als etwaiger Interessenkonflikt schädlich
Die jüngste Entwicklung aber ändert nichts daran, dass Kretzschmar sich seiner zuvor heiklen Mission durchaus bewusst ist. Die ein- oder andere Äußerung sei womöglich Geschmacksache, räumte Kretzschmar ein. Dass er Berlin in seinen Kommentaren bevorzuge, hatte er von sich gewiesen: „Im Gegenteil, ich bin tendenziell wohl eher zu kritisch mit uns“. Ob er nicht manch unbequemes Thema rund um den Hauptstadtklub ab- oder umleiten kann? „Nein. Ich weiß doch, dass ich diesbezüglich unter die Lupe genommen werde.“ Eine Einmischung in die Angelegenheiten der Konkurrenz aber mochte er nicht erkennen. Da nahm und nimmt er sich selbst in die Pflicht. Mehr noch: „Wäre ich nicht bei den Füchsen, sondern nur TV-Experte, dann könnte es angesichts dessen, was ich alles erfahre, deutlich ungemütlicher für viele werden. Ich empfinde ja gerade aufgrund meiner Doppelfunktion eine besondere Verantwortung für meine Aussagen“, erklärte er Tage vor dem Paukenschlag in Berlin. Ein respektvoller Umgang mit der Aufgabe sei ihm äußerst wichtig. Zwischen Know-How und Entertainment will Kretzschmar nicht als Nestbeschmutzer abgestempelt werden: Der Füchse-Job als Regulativ. Das ist vorerst vorbei. Kommt nun klare Kante?
Hierzu mögen die Einschätzungen variieren, was aber nicht von der Hand zu weisen ist: Der mediale Zugewinn durch Frontmann Kretzschmar für die Handballbranche ist um ein Vielfaches höher als dessen vermeintlicher Interessenkonflikt problematisch (war). ‚Kretzsche‘ versteht sich schließlich auch auf die Kunst des Infotainments, ohne dabei zu trivial zu werden. Dank seiner Expertise gleitet die einmal monatliche Sendung ‚Harzblut‘, in der er neben Moderator Florian Schmidt-Sommerfeld, dem ebenfalls TV-erprobten Pascal Hens und dem dauerlaunigen Michael Kraus auftritt, nicht zu sehr auf Stammtischniveau ab, auch wenn das mitunter durchaus gewollt ist. Es soll nicht so bierernst zugehen in diesem Format, betont Kretzschmar. Sein inzwischen sehr gut angenommenes wöchentliches Duett mit Schmidt-Sommerfeld hat dank seiner Einlassungen bisweilen sogar journalistische Relevanz. Das Duo kreiert vor der Kamera ganz gerne „die nächste BILD-Schlagzeile“.
Sportarten auf DYN: Seitenblick auf die medialen Gepflogenheiten im Handball?
In einer Sportlandschaft, in der Medien-Kooperationen längst zum täglichen (Kommunikations-)Handwerk gehören und in den Fragen nach der nötigen kritischen Distanz gerne ein Auge zugedrückt wird – und zwar auf beiden Seiten – wird Grenzgänger Stefan Kretzschmar womöglich eine weitere Vorreiterrolle einnehmen: Wie man mit Stil und Anstand seine mediale Vormachtstellung nicht dazu missbraucht, in eigener Angelegenheit „schmutzige Wäsche zu waschen“. Einen ersten Beweis hat er im Rahmen seiner DYN-Formate bereits angetreten und nur das Nötigste gesagt. Sehr kurz, sehr dezent, ohne Hang zur Eskalation – und auch nur, weil es unvermeidlich war. Denn die an ihn gerichtete, aus medialer Sicht unumgängliche Frage galt dem geschassten Sportvorstand der Füchse, nicht dem DYN-Experten Kretzschmar.
Es entbehrt nicht einer gewissen Brisanz, dass Kretzschmars Gegenüber in der ‚Causa Füchse Berlin‘ nicht minder sendungsbewusst und medienaffin ist: Bob Hanning, unbestritten der Baumeister des Berliner Handball-Erfolgs, ist nach Kretzschmar und Heiner Brand wohl das nächst-populärste Gesicht der Sportart. Anzunehmend nicht so beliebt, aber sicher annähernd bekannt. Der Füchse-Geschäftsführer wollte in seiner eigenen Kicker-Kolumne kurz vor dem Saisonstart „noch enger, noch hautnaher dran sein“ an der Bundesliga, wie er verkündete. Wenig später nutzte er eine Art ‚Sonderausgabe‘ des Monolog-Formats, um – trotz ein paar chronologischer Unwegsamkeiten ungebremst – die Entwicklung bis zum Doppelrauswurf von Sportvorstand und Trainer inklusive Verpflichtung des Nachfolgers aus seiner Perspektive darzulegen. Zu rechtfertigen. Bemüht sachlich, keine Frage. Aber eben doch „in eigener Sache“, sozusagen. Kritische Distanz, ein Verzicht auf eine solche ‚Sondersendung‘ schien hier die falsche Währung.
Es ist den Protagonisten indes zunächst einmal nicht vorzuwerfen, dass derartige Verquickungen Teil des Selbstverständnisses der ‚Handball-Familie‘ und ihrer Medienpartner sind. Was sie daraus machen, wird vermutlich fortan aber durchaus etwas aufmerksamer beobachtet – nicht zuletzt auch von den anderen Teamsportarten wie Hockey, Basketball, Tischtennis oder Volleyball, allesamt ebenfalls vom Streaming-Dienst DYN präsentiert. Sie alle brauchen mediale Aufmerksamkeit – nicht nur in Sachen Vermarktung, sondern auch im Hinblick auf ihr olympisches Standing. Fairplay im medialen Kontext und Umgang miteinander inklusive. In Magazinen, Vodcasts, Talkformaten und Experten-Updates.