Neue App: Gehirnerschütterung im Sport erkennen Photo by John Torcasio on Unsplash
Dr. Axel Gänsslen „Wenn der Verdacht einer Gehirnerschütterung besteht, liegt sie meist auch vor.“

Neue App: Gehirnerschütterung im Sport erkennen

  • Julia Nikoleit
Die Gefahr besteht im Fußball und Eishockey ebenso wie im Handball, American Football oder Basketball: In all den beliebten Mannschaftssportarten erleiden die Spieler*innen hin und wieder eine Gehirnerschütterung - zuletzt musste Handball-Nationalspieler Steffen Weinhold seine Teilnahme an den Qualifikationsspielen für die Europameisterschaft 2022 absagen. Oft wird die Verletzung unterschätzt, obwohl eine nicht erkannte Gehirnerschütterung lebenslange gesundheitliche Folgen haben kann. Die kostenlose Gehirn-Erschütterungs-Test-App (kurz: GET-App) der ZNS – Hannelore Kohl Stiftung soll Vereine bei der Früherkennung von Gehirnerschütterungen unterstützen.
Dr. Axel Gänsslen gehört zu den Initiatoren der Kampagne ‚Schütz deinen Kopf!’ und war an der Entwicklung der GET-App entscheidend beteiligt. Im ausführlichen Interview beschreibt der Mannschaftsarzt des Eishockey-Erstligisten Grizzlys Wolfsburg, warum Gehirnerschütterungen so oft unterschätzt werden, zeichnet den Heilungsprozess nach und erklärt die Funktionsweise der GET-App. Er appelliert an alle Trainer*innen und Vereine, Vorsicht walten zu lassen: „Wenn der Verdacht einer Gehirnerschütterung besteht, liegt sie meist auch vor - und der Sportler muss bei einem Arzt vorstellig werden.“

Herr Dr. Gänsslen, warum werden Gehirnerschütterungen so oft unterschätzt?

Meistens wird eine Gehirnerschütterung nur diagnostiziert, wenn man bewusstlos gewesen ist, sich erbrochen hat oder sich an etwas nicht mehr erinnern kann. Diese drei Symptome sind jedoch nur in zehn bis zwanzig Prozent der Fälle vorhanden. Kopfschmerzen, Schwindel und Gleichgewichtsstörungen treten wesentlich häufiger auf, werden jedoch oft nicht in Beziehung zu einer Gehirnerschütterung gesetzt. Entsprechend werden viele Gehirnerschütterungen, gerade im Sport, nicht erkannt. Im Sport kommt es zudem immer wieder vor, dass der Sportler unter Adrenalin weiterspielen will oder ihm vom Trainer oder Mitspieler gesagt wird: "Stell dich nicht so an, eine Gehirnerschütterung hatte ich auch schonmal und das war nicht gefährlich - also spiel gefälligst weiter!“

Welche Folgen kann es haben, wenn eine Gehirnerschütterung unterschätzt bzw. nicht diagnostiziert wird?

Neben den eben schon genannten klassischen Symptomen treten auch immer wieder Probleme auf, die durch das Gehirn selbst verursacht werden - wie Konzentrations- oder Erinnerungsstörungen. Das hängt davon ab, wo das Gehirn verletzt wird. Häufig kommt es auch zu Schlafstörungen. Das Gehirn macht uns müde, weil es Erholung braucht. Viele Patienten klagen über eine starke Müdigkeit. Wer hingegen nicht ein- oder durchschlafen kann, was auch vorkommt, braucht in der Regel noch länger, um sich zu erholen.

Warum sind die Symptome so unterschiedlich? Das erschwert es ja extrem, eine Gehirnerschütterung zu erkennen…

Das Hirn schlägt in unserem Kopf auf der völlig irregulären Schädelbasis hin und her. Je nachdem, von wo die Gewalt bei einem Aufprall oder Zusammenstoß einwirkt, können unterschiedliche Bereiche geschädigt werden. Die Gehirnerschütterung ist wie ein Chamäleon - keine gleicht der anderen!

Welche Probleme bestehen darüber hinaus bei der Diagnose bzw. der Behandlung?

Wir haben damit zu kämpfen, dass es in Deutschland keine Daten gibt, welche Konsequenzen eine Gehirnerschütterung hat. Bei einem Verdachtsfall wird man 24 Stunden im Krankenhaus überwacht, wobei je nach Alter eventuell noch eine CT-Untersuchung erfolgt, um Blutungen auszuschließen. Nach 24 Stunden gehen die meisten Leute mit der Anweisung nach Hause, sich zu schonen, aber niemand überprüft die Heilung genauer. Wir wissen also gar nicht, wie oft Konzentrations- oder Erinnerungsprobleme auftreten und wer aufgrund der Gehirnerschütterung in Schule oder Berufsleben nicht mehr klarkommt. Wenn man nach einem Jahr mit anhaltenden Konzentrations- oder Erinnerungsstörungen zum Arzt geht, werden diese oft nicht auf die Gehirnerschütterung zurückgeführt. Das ist ein großes Problem für uns Mediziner.

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Dr. Axel Gänsslen gehört zu den Initiatoren der Kampagne ‚Schütz deinen Kopf!’ und war an der Entwicklung der GET-App entscheidend beteiligt (Foto:©Grizzlys Wolfsburg)

Wie lange dauert die Genesung nach einer Gehirnerschütterung? Und hängt der Heilungsprozess auch davon ab, wie schwer der Zusammenstoß oder der Aufprall war?

Es wird zwar gerne gesagt, dass es leichte oder schwere Gehirnerschütterungen gibt, aber das ist letztendlich eine sehr individuelle Aussage. Die Abstufung ist medizinisch nicht definiert. Generell gibt es jedoch klare internationalen Vorgaben, wie man bei einer Gehirnerschütterung vorzugehen hat. Das oberste Ziel ist es, die Person wieder arbeitsfähig zu bekommen - das nennt man „return to work“. Typischerweise dauert das fünf bis sechs Tage, das ist der bekannte Mittelwert. Wenn das gewährleistet ist, kümmert man sich um die Sportfähigkeit - das so genannte „return to play“-, was auch etwa fünf bis sechs Tage dauert. In der Regel sprechen wir also über einen Zeitraum von zehn bis zwölf Tagen. Danach ist für die meisten Erwachsenen eine Wiederherstellung gegeben.

Was ist noch zu beachten?

Das „Return to work“ steht vor dem „Return to play“! Für den professionellen Sportler ist beides natürlich identisch, aber gerade im Amateurbereich ist es wichtig, dem Sportler wirklich seine zehn bis zwölf Tage Pause zu geben. Viele Menschen fühlen sich zwar schon nach vier, fünf Tagen deutlich besser, aber sie sind noch nicht wieder gesund.

Wie lange dauert die Heilung im Kinder- und Jugendbereich?

Im Kindesalter dauert die Erholung wesentlich länger als bei den Erwachsenen. Man geht davon aus, dass die mittlere Erholungszeit für Kinder bei 40 bis 60 Tagen liegt. Ein Schüler kann mit einer Gehirnerschütterung also im schlimmsten Fall ein knappes Halbjahr seine Leistung nicht wie normal bringen. So lange bleibt in der Regel allerdings kein Kind zu Hause, da wir in Deutschland ja die Schulpflicht haben.

Wenn Sie auf den Sport blicken: Welche Sportarten zählen Sie zur Risiko-Sportarten?

Jeder Sport, in dem ein Risiko besteht, dass man Kopftreffer erleidet, gehört dazu. Über American Football und Eishockey brauchen wir nicht diskutieren. Auch Boxen gehört sicherlich dazu - ebenso wie die klassischen Mannschaftssportarten Handball, Fußball und Basketball, die in Deutschland gerade in der Breite gespielt werden.

Hat in den genannten Sportarten bereits eine Sensibilisierung für die Gefahr von Gehirnerschütterungen stattgefunden?

Im Eishockey definitiv! Im Profibereich ist die so genannte Baseline-Testung sogar Voraussetzung für die Lizenzierung.

Die GET-App, an deren Entwicklung Sie maßgeblich beteiligt waren, wurde zuletzt überarbeitet - speziell mit Blick auf den Teamsport. Was ist die entscheidende Neuerung?

Man kann jetzt eine komplette Mannschaft testen und die Daten gesammelt hinterlegen. Bisher hat man sich als Sportler die App auf sein eigenes Gerät heruntergeladen und seine eigene Testung durchgeführt, aber das eigene Handy oder Tablet steht am Spielfeldrand ja oft nicht gleich zur Verfügung. Es ist viel eleganter, dass der Trainer oder Betreuer seine SpielerInnen testet - und genau das ist jetzt möglich. Nach der Testung, die auch ohne Mediziner möglich ist, hat der Staff für jeden Spieler eine Baseline. Wenn einem Spieler nun etwas passiert, kann der Trainer ihn den Test wiederholen lassen - und die App würde bei entsprechenden Warnsymptomen melden, dass eine Gehirnerschütterung denkbar ist. In diesem Fall sollte der Spieler einen Arzt aufsuchen. Die GET-App ist allerdings keine Diagnose-App, sondern eine Empfehlungs-App. Da im Amateurbereich jedoch oft kein Arzt vor Ort ist, der den Spieler sofort untersucht, ist der Einsatz trotzdem sinnvoll.

Wenn ein Spieler beim Kopfball mit dem Gegner zusammengestoßen ist: Wie genau läuft der Notfalltest ab?

Zunächst werden bestimmte objektiv feststellbare Symptome aufgelistet - wenn der Spieler bewusstlos auf dem Feld lag, ist das ein klares Zeichen. Es werden jedoch auch die subjektiven Anzeichen wie Schwindelgefühl abgefragt. Werden die Symptome bejaht, könnte der Spieler eine Gehirnerschütterung haben.

Und wenn der Sportler unbedingt weiterspielen will und daher Kopfschmerzen oder ein Schwindelgefühl verneint?

Es gibt in der Tat sehr, sehr viele Spieler, die ihre Symptomatik negieren, weil sie weiterspielen wollen. Das ist gerade in wichtigen Partien wie einem Halbfinale auch ein stückweit verständlich. Deshalb haben wir in die App Tests für die Reaktion, die Lesefähigkeit und das Gleichgewicht eingebaut, deren Ergebnisse sich nicht so einfach simulieren lassen.

Was bedeutet das?

Beim Reaktionstest muss der Bildschirm so schnell wie möglich gedrückt werden, wenn ein Symbol aufleuchtet; die Reaktionszeit des Bildschirms wird dabei eingerechnet. Der normale Mensch hat 0,35 Sekunden Reaktionszeit. Bei einer Gehirnerschütterung ist die Reaktionszeit oft eingeschränkter - und wenn jemand auf einmal 0,8 Sekunden braucht, ist das ein klares Anzeichen für eine Gehirnerschütterung. Im Test zur Lesefähigkeit müssen mehrere Zahlenreihen von links nach rechts vorgelesen werden. Die Zahlen haben nicht den gleichen Abstand zueinander, sodass damit etliche Hirnfunktionen überprüft werden - wie zum Beispiel die Konzentrationsfähigkeit. In der Regel braucht ein Mensch 13 bis 14 Sekunden für den Lesetest. Die abschließende Gleichgewichtstestung, die 20 Sekunden dauert, wird weltweit standardisiert angewendet.

Welche Möglichkeiten bietet die App noch?

Es lässt sich nach einer Gehirnerschütterung der Heilungsverlauf überprüfen. Es werden 22 Symptome abgefragt, der Sportler bewertet sie auf einer Skala von null bis sechs. Die Maximalpunktzahl liegt damit bei 132, das wäre der absolute Worst Case. Gerade in den ersten ein bis zwei Wochen empfiehlt es sich, den Test alle zwei, drei Tage zu machen, um die Besserung verfolgen zu können.

Wie kam Ihr Engagement für das Thema zustande?

Unser Krankenhaus hat vor zehn Jahren die medizinische Betreuung des Eishockey-Vereins in Wolfsburg übernommen - daher habe ich angefangen, mich mit dem Thema zu beschäftigen. Wir haben seitdem eigentlich in jeder Saison einen Spieler, der mit einer Gehirnerschütterung bis zu fünf bis sechs Monate ausgefallen ist. Unser Kapitän musste sogar seine Karriere beenden, weil er sich bis heute nicht erholt hat.

Welchen Appell würden Sie abschließend an die Trainer und Sportler richten?

Es gibt eine einfache Faustregel: Wenn der Verdacht einer Gehirnerschütterung besteht, liegt sie meist auch vor - und der Sportler muss bei einem Arzt vorstellig werden. Wir erleben jedoch leider immer wieder, dass sich nicht jeder Arzt mit der Materie auskennt, daher erfordert es eine weite Verbreitung des Wissens zur Gehirnerschütterung. Ein Sportler sollte sich auch stets ehrlich hinterfragen: Habe ich Symptome - und wenn ja, sollte ich nicht doch lieber pausieren? Es muss einfach gesellschaftlich klar werden, dass man eine Gehirnerschütterung nicht auf die leichte Schulter nehmen darf!

Weitere Infos findet Ihr unter: www.schuetzdeinenkopf.de

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