Der verlorene Sohn - Stephon Marbury picture-alliance

Der verlorene Sohn - Stephon Marbury

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Von Coney Island bis China, vom Hoffnungsträger zur Reizfigur, vom Freiplatzhelden zum Geschäftsmann: der steinige Weg des Stephon Marbury.

Der Strand von Coney Island ist in eine dichte Wolke aus Nebel gehüllt, die das alte Riesenrad mit seinen rot- und blaugelb gestrichenen Kabinen langsam im Dunst verschwinden lässt. Ab und an hört man das Rattern und Surren der Jahrmarktbuden, die vor hundert Jahren einmal so etwas verkörperten wie heute Disney Land. „SHOOT THE FREAK!“, steht auf einer Mauer. Davor kann man mit Paint Ball-Gewehren auf einen Menschen schießen. Die Farbe blättert von den Wänden. Es riecht nach heißem Fett und Zuckerwatte.

Das Wohnviertel, das sich an den Park krallt, hat der Regen grau gewaschen. Manhattan ist nur eine ferne Illusion, Basketball eine Abwechslung von der Eintönigkeit der farblosen Sozialsilos. Hier, eine U-Bahn-Stunde von Downtown New York entfernt, wird am 20. Februar 1977 ein Junge geboren, den sie zwanzig Jahre später „Coney Island’s Finest“ rufen sollen: Stephon Xavier Marbury.

Stephons Marbury's Wohnzimmer

Die Gegend, in der Stephon Marbury aufwächst, trägt den blumigen Namen „Surfside Garden“. Er lässt an eine Zeit denken, als Coney Island zu einem beliebten Naherholungsgebiet der New Yorker Stadtgesellschaft zählte. Nur der Strand ist geblieben von der einstigen Postkartenidylle. Dort, wo heute der Nebel über das Wasser wabert, hat Stephon als Junge Limonadenflaschen verkauft, wenn er Geld brauchte. Als vierter Sohn der Familie lernt er die andere Seite des „Big Apple“ kennen. Seine Mutter Mabel jobbt als Betreuerin, Vater Don hält die Familie als Handwerker über Wasser. Neben Stephon wollen noch sechs andere Mäuler gestopft werden.

Wenn der Junge damals aus dem Fenster der Wohnung im vierten Stock blickt, kann er den „Garden“ (siehe Foto) sehen, seinen Court, auf dem ihn selbst die Drogendealer hofieren, weil er einer von ihnen zu sein scheint und doch ganz anders ist.

Der Basketballplatz ist der Mittelpunkt der Wohnhaussiedlung, in der 1.600 Menschen ihr Dasein fristen. Der „Garden“ verkörpert den Traum Stephons und den Traum seiner Familie. Alle Söhne der Marburys streben in die NBA – nur Stephon wird es schaffen.

Eric „Spoon” Marbury spielt für die University of Georgia an der Seite von Dominique Wilkins. Der Schritt in die NBA bleibt ihm ebenso versagt wie Donnie „Sky Pup“ und Norman „Jou-Jou“ Marbury, der seiner Zeit als der vielleicht besten Point Guard Brooklyns gilt.


Stephon soll den Traum seiner Familie weiterleben. Der „Garden“ wird zu seinem neuen Wohnzimmer. Mit neun Jahren nimmt er an Halbzeitveranstaltungen der Abraham Lincoln High School teil. Mit elf wird er von der Zeitschrift Hoop Scoop zum besten Spieler des Jahrgangs gewählt. Sein ältester Bruder Eric trainiert ihn, und er trainiert hart! „Spoon Workout“ nennen sie das in der Nachbarschaft. Eric lässt Stephon die fünfzehn Stockwerke und 150 Stufen des Wohnhauses rauf- und runterhetzen, um körperlich mithalten zu können gegen die Jungs im Rucker Park. Danach Push-ups, Sit-ups und harte Basketballdrills – vier Stunden geht das so, jeden Tag, den ganzen Sommer über.

Es lohnt sich. Fast jede Highschool New Yorks möchte den Jungen aus Brooklyn in ihrem Team sehen. Jeder versucht sich, durch kleinere und größere Gefälligkeiten einen Vorteil zu verschaffen. Am Ende wählt Vater Don die Lincoln Highschool, die fünf Kilometer von Stephons Zuhause entfernt liegt. Alle Brüder der Familie haben diese Schule besucht und für das Team der „Railsplitters“ gespielt. Auf Stephons Trikot prangt die 3, so etwas wie das familiäre Erbstück der Marburys.

Bald ist der 1,88 Meter große Guard nicht mehr nur im „Garden“ eine Nummer. 1994 adelt ihn das Magazin Vibe zu „The Future“. Er soll nach Kenny Anderson und Mark Jackson die Tradition New Yorker Point Guards weiterführen. 1995 gewinnt er mit Lincoln die Stadtmeisterschaft. Im gleichen Jahr wird er zu New Yorks „Mr. Basketball“ gewählt.


Doch die Realität seiner Existenz holt ihn ein. Sein ehemaliger Mitspieler Jason „Juice“ Sowell wird erschossen, nicht weit von Stephons Wohnung entfernt. Es ging um eine Waffe, vielleicht um mehr, Jason wurde nur 16 Jahre alt. Stephon verlässt New York, kehrt Coney Island und dem „Garden“ den Rücken, um ans College zu wechseln.

Er schließt sich für ein Jahr den „Yellow Jackets“ von Georgia Tech an. Mit Drew Barry, Michael Maddox und Matt Harpring bildet er ein schlagkräftiges Quartett. Doch Marbury hat höhere Ziele. Das College ist nur eine Zwischenstation auf seinem Weg ins gelobte Land der NBA. Nach zwei Monaten bei Georgia Tech denkt er bereits laut über den Draft nach. Sollte er ein Lottery Pick werden, verrät er einem Reporter der Daily News, würde er das College bereits im Frühjahr verlassen.

 

Willkommen in der NBA

Nach nur einem College-Jahr meldet sich Marbury zum Draft 1996 an. Der Jahrgang wimmelt nur so von hochklassigen Guards: Allen Iverson, Ray Allen, Kobe Bryant und Steve Nash – sie alle sollen zu NBA-Legenden werden.

Und Stephon? Er wird an vierter Position von den Milwaukee Bucks gedraftet, vor Kobe und vor Nash. Im Tausch mit Ray Allen und einem Draft-Pick wechselt er zu den Minnesota Timberwolves. An der Seite von Kevin Garnett und Tom Gugliotta soll der junge Aufbauspieler aus der grauen Maus einen Playoff-Anwärter im Westen formen. General Manager Kevin McHale verspricht sich von Garnett und Marbury ein Duo wie es Karl Malone und John Stockten in Utah sind.

Auch wenn die Timberwolves zum ersten Mal in ihrer Geschichte die Playoffs erreichen – so richtig heimisch fühlt sich Marbury nie im kalten Minneapolis. Es ist das erste Mal, dass er für längere Zeit New York verlassen muss. Er vermisst Coney Island, den „Garden“ und seine Familie. Noch schlimmer: Nicht ihn, sondern Garnett statten die Wolves mit einem neuen Vertrag aus und machen ihn so zum Mittelpunkt der Franchise.

Marbury will sich nicht ins zweite Glied fügen. Obwohl die Timberwolves in der Saison 1997/98 erstmals mehr Siege als Niederlagen (45-37) einfahren, flieht er nach New Jersey, wo er endlich zum Star seines Teams werden kann. Der Wechsel vom aufstrebenden Minnesota zu den dahin dümpelnden Nets hinterlässt einen faden Beigeschmack. Der geldgierige Egoist ist ein Stigma, das Stephon Marbury ab sofort nicht mehr loslassen soll.


Mit mehr oder weniger talentierten Rollenspielern wie Kendall Gill, Keith Van Horn und Kerry Kittles bilden die Nets auch nach der Ankunft Marburys den Kaffeesatz der Eastern Conference. Persönlich geht es aufwärts für den Point Guard. Er wird zum ersten Mal zum All-Star gewählt und serviert den Los Angeles Lakers am 13. Februar 2001 50 Punkte.

Individuelle Bestwerte und Teamniederlagen gehen Hand in Hand in New Jersey. Als sich „Starbury“ die Worte „All Alone“ auf seinen Sneaker schreibt, bringt er das Fass zum überlaufen. Er muss gehen – diesmal in die Wüste nach Phoenix. Im Gegenzug wechselt Jason Kidd zu den Nets, welcher die Franchise bis in die NBA Finals führt. Stephon verpasst mit seinem neuen Team erstmals seit dreizehn Jahren die Playoffs.

Ein Zufall? Im Jahr darauf möchte er allen zeigen, dass er nicht der Unruhestifter ist, für den ihn viele halten. Mit der Ankunft Amare Stoudemires scheint die Diaspora Marburys nun endlich ein Ende zu finden. Er, Stoudemire und Shawn Marion bilden ein furioses Offensivtrio. Der Point Guard gehört mit seinen 22 Punkten und acht Assists im Schnitt zu einem der herausragenden „Slasher“ der Liga. Den San Antonio Spurs schenkt er 26 Punkte ein – in einem Viertel.


Mehr als die erste Playoff-Runde erreichen die Suns mit Marbury aber nie; ein Grund, warum er 2004 zu den New York Knicks getradet wird. Hier also scheint sich der Kreis zu schließen für den Jungen, der im „Big Apple“ als der verlorene Sohn empfangen wird. Im anderen „Garden“, dem Madison Square Garden, hat ein gewisser Isiah Thomas das Ruder übernommen. Vielleicht sieht er in Marbury auch ein bisschen sich selbst: den Mittelpunkt eines Gewinnerteams.

Stephon kehrt zurück nach Coney Island, wo er Kamerateams seinen alten Court zeigt, der früher mal sein Wohnzimmer war. Doch auch die Schattenseiten New Yorks verlassen ihn nicht. Kurz vor der Saison 2004/05 wird sein Cousin in Brooklyn erschossen. 2007 stirbt Vater Don, als er sich im Madison Square Garden das Spiel der Knicks gegen die Suns anschaut. Drei Jahre nach Stephons Heimkehr haben die Fans zu buhen begonnen, manchmal schon im ersten Viertel. Sie skandieren „Fire Isiah!“; auch Marbury wird zur Zielscheibe des Spotts.

Auf neuen Pfaden

Sportlich scheint sein Stern im Sinken begriffen. Bei den Olympischen Spielen 2004 gewinnt Marbury an der Seite von Allen Iverson „nur“ Bronze. Für die Knickerbockers folgt eine Enttäuschung der nächsten. Als Head Coach Mike D’Antoni Chris Duhon als Point Guard favorisiert, ist es für Marbury wieder einmal Zeit zu gehen.

2009 versucht Stephon bei den Boston Celtics ein letztes Mal sein Glück in der NBA. Es bleibt eine Momentaufnahme. Für ihn kein Grund, das Kapitel Basketball in seinem Leben abzuschließen. Er sieht sich als Geschäftsmann, vermarktet sich und seine Marke „Starbury“, die Schuhe und Bekleidung zu Schleuderpreisen anbietet. Das Logo hat er sich auf den kahl rasierten Schädel tätowieren lassen.

Mit seinem momentanen Arbeitgeber, dem chinesischen Basketballteam Shanxi Zhongyu, möchte Marbury nicht nur die Playoffs erreichen. Er will mehr als Bonzi Wells, der in China Statistiken wie Wilt Chamberlain produzierte, sich aber nach ein paar Monaten ohne ein „Bye Bye“ wieder aus dem Staub machte. Marbury sieht China als Chance, seinem Label neue Verkaufs- und Produktionsmöglichkeiten zu erschließen. Dafür soll er in diesem Sommer sogar ein Angebot der Miami Heat ausgeschlagen haben, so jedenfalls berichtet er selbst.

Der verlorene Sohn scheint weiter auf der Reise zu sein. New York, Minnesota, China: wo er war, hat Stephon Marbury seine Fußstapfen hinterlassen – große wie kleine. An ihm spalten sich noch heute die Geister. Seine Youtube-Videos und Twitter-Nachrichten sind ebenso legendär wie absurd. Die Vergangenheit des Jungen aus Coney Island bietet Höhen und Tiefen. „Es wird ein Teil meiner Geschichte“, sagt er über seine Ankunft in China. Fortsetzung folgt.

Conrad Ziesch

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