Im Rollstuhl aus der Verbannung Laureus

Im Rollstuhl aus der Verbannung

  • Redaktion
Eine Land­stras­se nahe Jodh­pur, Ra­jast­han. Rost­ro­ter Fels, Schot­ter, dürre Bü­sche. 52 Grad im Schat­ten, heiss der Wind, stau­big die Luft. Erst ist es nur ein klei­ner, dunk­ler Fleck über dem flim­mern­den Asphalt. Erst lang­sam er­kennt man einen Mann auf einem drei­räd­ri­gen Ge­fährt.

Der Mann trägt einen Helm und häm­mert mit sei­nen ban­da­gier­ten Hän­den in die Räder, häm­mert, häm­mert. Ein Mo­ped­fah­rer hält an und steht mit of­fe­nem Mund. Ein Mann ohne Beine? In einem gro­tes­ken Ge­fährt? Hier drau­ßen? Schon schiesst er vor­bei mit sur­ren­den Spei­chen in sei­nem gel­ben Roll­stuhl mit der Num­mer 43 und der Auf­schrift „Top End Eli­mi­na­tor OSR“

Janak Singh, 29, dreht noch ein paar Run­den, dann klet­tert er aus dem Roll­stuhl, legt die kno­chi­gen, ver­krüp­pel­ten Beine über Kreuz und er­zählt seine Ge­schich­te. Er ist drei, als er Fie­ber be­kommt. Ein Dok­tor spritzt ein Me­di­ka­ment. Das Fie­ber geht zu­rück. Doch nun kann Janak seine Knie nicht mehr beu­gen. Polio ist da­mals in länd­li­chen Ge­bie­ten weit ver­brei­tet, die Mehr­zahl der min­des­tens 90 Mil­lio­nen be­hin­der­ten Inder lei­den unter den Fol­gen von Kin­der­läh­mung. Auch Ja­naks Beine ver­küm­mern, bald kann er sich nur noch krie­chend fort­be­we­gen. Nie­mand im Dorf will mit ihm spie­len, zu Fa­mi­li­en­fes­ten wird er nicht ein­ge­la­den. Man nennt ihn „Lang­du“ oder „Khor­dia“, Worte, die er nicht über­set­zen will. „Be­hin­der­te“, wird Sneh Gupta spä­ter sagen, „ste­hen in In­di­en noch unter den Un­be­rühr­ba­ren, der nied­rigs­ten Kaste.“

Ra­jast­han im Nord­wes­ten In­di­ens. Kar­ges, struk­tur­schwa­ches, von alt­her­ge­brach­ten Tra­di­tio­nen ge­präg­tes Land. In Ra­jast­han bleibt in sie­ben von zehn Jah­ren der Mon­sun aus. Bau­ern ern­ten bes­ten­falls ein­mal im Jahr. Das Leben ein end­lo­ser Kampf, be­glei­tet von Dür­ren und immer wie­der keh­ren­den Hun­gers­nö­ten. In die­ser Welt gel­ten Be­hin­der­te als wert­los. Jede In­ves­ti­ti­ton in ihre Bil­dung wird als Ver­schwen­dung an­ge­se­hen, weil ihnen nie­mand Ar­beit geben würde. Man ver­steckt sie, sperrt sie ein, ket­tet sie an. Be­hin­der­te sind ein böses Omen, ein Fluch, brin­gen Un­glück. So wie er, Janak Singh, Sohn eines mit­tel­lo­sen Bau­ern aus dem Dorf Sa­recha am Rande der Thar-Wüs­te, in dem es kei­nen Strom und keine Ka­na­li­sa­ti­on gibt. Wo die Men­schen glau­ben, wenn Schwan­ge­re einen Be­hin­der­ten be­rüh­ren, brin­gen sie einen Krüp­pel zur Welt. Und die Kak­te­en vor ihren Hüt­ten sind für sie Wie­der­ge­bur­ten ver­lo­re­ner See­len, die für die Ver­feh­lun­gen frü­he­rer Leben büßen.

1991. Der Uni­ver­si­täts­pro­fes­sor Dr. Nara­yan Singh, der be­reits ein Ent­zugs­pro­gramm für Opi­um­ab­hän­gi­ge lei­tet, grün­det in Ma­nak­lao, 28 Ki­lo­me­ter nörd­lich von Jodh­pur, eine Schu­le für Be­hin­der­te: Suche­ta Kri­pla­ni Shik­s­ha Nik­et­an (SKSN). Die erste Klas­se be­steht aus 20 Jungs, die unter einem Baum un­ter­rich­tet wer­den, in einem Zelt schla­fen, im Frei­en essen und keine Toi­let­te haben. Zwang­zig Jahre spä­ter be­steht SKSN aus einem Dut­zend grau und rot be­mal­ter, klo­bi­ger Flach­bau­ten samt Tem­pel, Sport­platz und Ge­mü­se­gar­ten. 500 Jun­gen und Mäd­chen im Alter von fünf bis 18 Jah­ren wer­den un­ter­rich­tet und be­her­bergt. Es gibt 14 Klas­sen, 28 Schlaf­räu­me für Jungs, 22 für Mäd­chen, zwei Kü­chen, Work­shops für Me­tall­ver­ar­bei­tung, Schnei­de­rei und Weben.

Ge­lei­tet wird die Schu­le von Dr. Bai­roon Singh Bhati, Nay­ra­mans äl­tes­tem Sohn. Mis­ter B., wie ihn alle nen­nen, der So­zi­al­ar­beit stu­diert hat, ver­zich­te­te für SKSN auf eine lu­kra­ti­ve Kar­rie­re im Staat­dienst. Nun muss er pau­sen­los um Spen­den kämp­fen. Die Re­gie­rung Ra­jast­hans trägt nur 80 Pro­zent der Ge­häl­ter der Leh­rer, zahlt etwa 12 Euro mo­nat­lich pro Kind für Ver­pfle­gung, Klei­dung, Me­di­zin und En­er­gie­kos­ten. Nicht genug. „Ohne Men­schen wie Karin“, so Mr. B., „wären wir ver­lo­ren.“ Über sei­nem Schreib­tisch hängt ein Bild von ihr, gleich neben dem einer hin­du­is­ti­schen Gott­heit: Karin De­muth, die 1996 eine Do­ku­men­ta­ti­on über SKSN im Fern­se­hen sah und das Pro­jekt seit­her mit ihrer In­di­en­hil­fe e.V un­ter­stützt. Das Geld für den erste Wohn- und Schul­ge­bäu­de kam von De­muth, die das Baye­ri­sche Fern­se­hen über­zeug­te, in der Sen­dung „Stern­stun­den“ zu be­rich­ten; 100000 Euro Spen­den kamen da­durch zu­sam­men.

Mr. B., 37, ist ein gros­ser, im­po­san­ter Mann, das lange Haar und der bu­schi­ge Schnurr­bart von grau­en grau­en Sträh­nen durch­zo­gen. Er hat bei SKSN von Be­ginn an gro­ßen Wert auf kör­per­li­che Er­tüch­ti­gung ge­legt. Prak­ti­ziert wur­den neben Kri­cket zu­nächst Kab­ba­di und Malk­hamb, eine Mi­schung aus Akro­ba­tik und Kampf­sport. Bis eine Freun­din von Mr. B., die Film­pro­du­zen­tin Sneh Gupta, 2003 eine ver­meint­lich ab­sur­de Idee hatte. Warum nicht Be­hin­der­te mit Nicht-Be­hin­der­ten Sport trei­ben las­sen? Gupta: „So kön­nen beide Sei­ten so­zia­le Bar­rie­ren ab­bau­en, das Po­ten­zi­al und die Gren­zen ihres Kör­pers neu ent­de­cken, sie kön­nen Ver­ständ­nis und Re­spekt für­ein­an­der ent­wi­ckeln, Freun­de wer­den.“ 2004 star­te­te Gupta in Ma­nak­lao die In­dian Mixed Abili­ty Group Events (IMAGE), die seit 2005 von der Lau­reus Sport for Good Foun­da­ti­on un­ter­stützt wer­den.

Neun Uhr mor­gens. Mor­gen­gym­nas­tik im Schul­hof. Die Schü­ler der SKSN tra­gen graue Hosen, hell­graue Hem­den. Die Schü­ler in rot-gel­ben Uni­for­men kom­men von der staat­li­chen Schu­le der an­gren­zen­den Dör­fer. Hände hoch, Hände vor, Hände zur Seite. Be­hin­der­te klet­tern ein Seil und einen Pfahl nach oben. In einer Ecke des Schul­hofs be­gin­nen Be­hin­der­te und Nicht-Be­hin­der­te ein Vol­ley­ball­spiel, in einer an­de­ren spie­len sie Kab­ba­di, des­sen Ziel es ist, geg­ne­ri­sche Spie­ler zu fan­gen und zu Fall zu brin­gen. Im Ge­mein­schafts­saal Tisch­ten­nis. Der Junge mit Krü­cke ge­winnt. Kul­de­ep­singh, 17, der nicht be­hin­dert ist und seit zwei Jah­ren zu den IMAGE-Ter­mi­nen kommt, sagt: „Die Be­hin­der­ten sind harte Ar­bei­ter, total en­thu­si­as­tisch, ihre Wil­lens­kraft ist be­ein­dru­ckend.“ Amar, 17, ein Opfer von Polio auch er, meint: „Erst sagen sie: ‚Hey, ihr könnt nichts!’ Dann zei­gen wir ihnen, dass wir ei­ni­ges bes­ser kön­nen als sie.“

Janak Singh, der Kri­cket liebt, kam 2002 nach Ma­nak­lao. In sei­nem Dorf ver­folg­te er die Matches stun­den­lang von der Tri­bü­ne aus. Al­lei­ne. Ver­spot­tet von den Spie­lern. Nun end­lich durf­te er mit­ma­chen. Nicht nur beim Kri­cket. „Ich habe die Welt plötz­lich mit an­de­ren Augen ge­se­hen“, sagt Janak, „jeder hier hat eine Be­hin­de­rung, plötz­lich war ich nicht mehr das ein­zi­ge Wrack der Welt.“ We­ni­ge Wo­chen spä­ter nahm ihn Mr. B. als einen von zehn Schü­lern mit zu den Mini Games in Lon­don, einer klei­ne­ren Ver­si­on der Pa­ralym­pics. Janak ge­wann Gold in fünf Wett­be­wer­ben. Als SNSK 2005 und 2006 die Indi Abili­ty Games ver­an­stal­te­te, eine Kopie der Mini Games, war Janak SKSNs Team­ka­pi­tän. „Wir brau­chen mehr sol­cher Events“, sagt Tanni Grey-Thomp­son, Mit­glied der Lau­reus Aca­de­my und elf­ma­li­ge Gold­me­dail­len­ge­win­ne­rin bei Pa­ralym­pics: „Wenn Be­hin­der­te Sport trei­ben, kön­nen sie sich und der Ge­sell­schaft be­wei­sen, dass sie kon­struk­tiv, pro­duk­tiv und er­folg­reich sein kön­nen.“

Über Janak la­chen sie schon lange nicht mehr. „Frü­her war er scheu, ver­ängs­tigt“, er­zählt sein Bru­der Bhom, „jetzt nicht mehr, er war schon drei­mal in Lon­don, die meis­ten Men­schen aus un­se­rem Dorf sind nicht mal über Jodh­pur hin­aus ge­kom­men.“ Längst wird Janak von Ver­wand­ten und Nach­barn ein­ge­la­den. Und wenn es nach Mr. B. geht, könn­te er schon bald ein Na­tio­nal­held sein. Ob­wohl er erst seit Fe­bru­ar mit einem wett­kampf­taug­li­chen Roll­stuhl trai­niert, be­leg­te er im Mai bei den bri­ti­schen Meis­ter­schaf­ten Platz zwei über 400 Meter und Platz drei über 100, 200 und 5000 Meter. Nächs­tes Ziel: die Pa­ralym­pics 2012 in Lon­don. Dafür trai­nert er täg­lich fünf Stun­den in sen­gen­der Sonne auf der Land­stra­ße. Dafür quält er sich täg­lich vier Stun­den im Kraft­raum. Mr. B. sagt: „Jeder, der etwas von der Ma­te­rie ver­steht und ihn sieht, sagt: ‚Was für ein phä­no­me­na­les Ta­lent.’“

Das Pro­blem ist ein an­de­res. Um pro­fes­sio­nell trai­nie­ren zu kön­nen, bräuch­te Janak einen Trai­ner, einen mass­ge­fer­tig­ten Roll­stuhl, müss­te Wett­kämp­fe be­strei­ten, die über­wie­gend in Eu­ro­pa, USA und Aus­tra­li­en statt­fin­den. Al­lei­ne ein Paar Hand­schu­he kos­ten um­ge­rech­net 100 Euro, ein Satz Rei­fen min­des­tens das Dop­pel­te. Mr. B. hat das Geld nicht. Sneh kommt mit ihren 20000 Euro von Lau­reus schon lange nicht mehr zu­recht, in­zwi­schen gibt es IMAGE an 18 Schu­len für Be­hin­der­te in Ra­jast­han. Staat­li­che Sport­för­de­rung? Nicht hier. In­di­en ist das Land, das pro Ein­woh­ner (1,1 Mil­li­ar­den) die we­nigs­ten oly­mi­schen Me­dail­len (20 seit 1900) ge­won­nen hat, und das ob­wohl die Hälf­te der Be­völ­ke­rung unter 25 ist.

Mr. B. hat es aus­ge­rech­net. Um­ge­rech­net 70000 Euro bräuch­te Janak in den kom­men­den zwölf Mo­na­ten für Rei­sen, Un­ter­kunft, Ma­te­ri­al. „Man muss sich nur vor­stel­len, was das für ein Sym­bol für das Land wäre“, sagt Mr. B., „ein Be­hin­der­ter aus Nir­gend­wo ge­winnt Gold für In­di­en, es könn­te das Den­ken des gan­zen Lan­des ver­än­dern.“

 

Quelle: Laureus

(Hervorhebungen durch netzathleten.de)

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