Migräne(prophylaxe) und Sport? Was es zu beachten gibt gettyimages -- Experten-Interview zum Thema Sport und Migräne
Experteninterview

Migräne(prophylaxe) und Sport? Was es zu beachten gibt

  • Redaktion
Interview zum Thema "Was gibt es beim Sport mit Migräne zu beachten" mit Priv.-Doz. Dr. med. Charly Gaul (Chefarzt und Facharzt für Neurologie, spezielle Schmerztherapie und neurologische Intensivmedizin der Migräne- und Kopfschmerzklinik Königstein) und Benjamin Schäfer. (leitender Physiotherapeut der Migräne- und Kopfschmerzklinik Königstein).
Was ist Migräne und wie wird Migräne ausgelöst?

Migräne ist die häufigste neurologische Erkrankung überhaupt. Sie tritt familiär gehäuft auf, das heißt, es gibt einen genetischen Hintergrund. Bei der Migräne kommt es zu einer besonderen Form der Reizverarbeitung des Gehirns, die mit einem erhöhten Energiebedarf einhergeht. Dadurch ist ein Migränepatient sehr leistungsfähig, jedoch auf regelmäßige Pausen und eine regelmäßige Energiezufuhr angewiesen. Zum Schutz vor Überlastung, die dann Migräneanfälle auslösen kann, ist es sinnvoll, einen regelmäßigen Wechsel aus Aktivität und Ruhephasen einzubauen. Um nichtmedikamentös den Spiegel von Stresshormonen und die innere Anspannung zu reduzieren, sind Entspannungsverfahren wie Progressive Muskelrelaxation nach Jacobson gut geeignet. Ebenso gut geeignet ist regelmäßige körperliche Aktivität (Ausdauersport). Darüber hinaus können zur Behandlung des Schmerzes im akuten Migräneanfall Schmerz- und Migränemittel (Triptane) eingesetzt werden. Bei sehr häufigen Migräneanfällen können die nichtmedikamentösen Verfahren durch eine medikamentöse (prophylaktische) Medikation mit Medikamenten unterschiedlichster Wirkstoffklassen (z. B. Medikamente aus der Epilepsie-Behandlung oder Betablocker oder Antidepressiva) ergänzt werden.

Inwiefern kann Sport Migräneattacken beeinflussen?

Intensiver Sport kann bei Migränepatienten akute Attacken auslösen. Deshalb ist es sinnvoll, beim Ungeübten ein Ausdauertraining dosiert zu beginnen, mit kurzen weniger intensiven Einheiten zu starten und dann zunehmend auszubauen. Wenn regelmäßig Ausdauersport getrieben wird, das heißt z. B. dreimal pro Woche über 45 Minuten, kann Ausdauersport gut migräneprophylaktisch wirken. Das heißt, die Gesamtzahl der Migräneattacken kann nach und nach absinken. Weder mit optimaler Medikation noch mit intensivem Ausdauersport oder Entspannungsverfahren lässt sich die Migräne komplett zum Verschwinden bringen.

Welche Sportarten eignen sich besonders gut für Migräniker?

Um überhaupt regelmäßig Ausdauersport durchzuführen, ist Motivation die wichtigste Voraussetzung. Wenn Migränebetroffene bereits Erfahrung mit Sport haben, sollte die erste Überlegung dahin gehen, was den Betroffenen tatsächlich Spaß macht und was dadurch eine realistische Chance hat, regelmäßig umgesetzt zu werden. Neben der Präferenz sollte bei der Wahl der Sportart die Praktikabilität berücksichtigt werden. Bestenfalls sollte der Ausdauersport z. B. mit wenig Vorbereitungszeit beginnen können. Insbesondere Ausdauersportarten wie Nordic Walking, Laufen, Schwimmen oder Radfahren eignen sich durch ihre gleichmäßige Belastung gut für Migränepatienten.

Gibt es Sportarten, die Migränepatienten eher meiden sollten?

Prinzipiell sind alle Sportarten für Migränepatienten geeignet, es kann jedoch sein, dass durch die intensiven raschen Leistungswechsel bestimmte Sportarten Migräneanfälle durchaus auch auslösen können. Hier gilt es für den Betroffenen, Erfahrung zu sammeln. Eine Vorhersage, was gut wirkt und gut vertragen wird, kann individuell nicht getroffen werden.

Was versteht man unter einer multimodalen Therapie?

Ein multimodaler Therapieansatz beschreibt das Zusammenwirken unterschiedlicher Therapieformen. Dies meint zum einen das interdisziplinäre Arbeiten – das heißt, verschiedene Fachdisziplinen sind eingebunden. Typischerweise arbeiten in einer multimodalen Schmerztherapie Physiotherapeuten, Psychotherapeuten, Ärzte, Entspannungstrainer und Pflegekräfte zusammen. Dabei fließen Informationen aus allen Fachbereichen ein. Es findet ein intensiver wöchentlicher Austausch über den Erkrankungs- und Therapieverlauf der Patienten statt und die Therapie wird auf individuelle Therapieziele angepasst. Ein guter multimodaler Therapieansatz hat für die Patienten den Vorteil, dass die Inhalte der Therapie aufeinander abgestimmt sind und die Therapie im Verlauf an die individuellen Bedürfnisse angepasst wird.

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Die Experten: Dr. med. Charly Gaul und Benjamin Schäfer (©Privat)

Welche medikamentösen vorbeugenden Migränetherapien gibt es aktuell?

Seit Jahrzehnten etabliert ist eine Behandlung mit Betablockern. Diese Medikamente wurden ursprünglich zur Behandlung des Bluthochdrucks entwickelt, können aber bei normwertigem Blutdruck auch in langsam aufsteigender Dosierung meist gut verträglich zur Migräneprophylaxe eingesetzt werden. Darüber hinaus kann Topiramat, das ursprünglich zur Behandlung der Epilepsie entwickelt wurde, eingesetzt werden. Antidepressiva mit einer bestimmten chemischen Struktur (Trizyklika, typischerweise Amitryptilin) wirken ebenfalls gut migräneprophylaktisch. Flunarizin kann als Kalziumkanalblocker eine gute migräneprophylaktische Wirkung entfalten. Bestehen bei einer Migräne 15 oder mehr Kopfschmerztage im Monat, spricht man von einer chronischen Migräne. Dann ist auch eine Behandlung mit Botulinumtoxin-Injektionen (Botox) möglich. Darüber hinaus sind seit Kurzem monoklonale Antikörper zur Migräneprophylaxe zugelassen, diese zeichnen sich durch besonders gute Verträglichkeit aus.

Was ist die Migränespritze und ist sie auch für Sportler geeignet?

Gemeint sind monoklonale Antikörper, die sich gegen das Molekül Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP) oder den CGRP-Rezeptor richten. Momentan sind drei dieser Medikamente (Erenumab, Galcanezumab, Fremanzumab) in Deutschland zugelassen. Sie können vom Patienten selbst unter die Haut injiziert werden. Je nach Präparat ist die Injektion einmal im Monat oder alle drei Monate möglich. Diese Präparate sind besonders gut verträglich und zeigen im klinischen Alltag eine gute Wirksamkeit. Die Behandlung wird von der Krankenkasse dann übernommen, wenn zuvor die Standard-Prophylaxe-Therapien zum Einsatz kamen oder wegen bestimmter Gegenanzeigen (Kontraindikation) nicht zum Einsatz kommen konnten oder zu ausgeprägten Nebenwirkungen geführt hatten. Prinzipiell können auch Sportler gut mit einem monoklonalen Antikörper behandelt werden.

Stichwort Nahrungsmittel als Auslöser: Sollten Migräniker von Supplementen oder Eiweiß-Shakes eher Abstand nehmen und warum?

Zu den „natürlichen Prophylaktika“ zählen Nahrungsergänzungsmittel, die Magnesium, Coenzym Q10 und Riboflavin (Vitamin B2) enthalten. Diese Präparate sind in Studien auf ihre migräneprophylaktische Wirkung untersucht und können durchaus eingesetzt werden. In der Migräneforschung existieren keine Daten, die eine Aussage gegen Supplemente oder Eiweiß- Shakes bei Sportlern unterstützen würden. Die Entscheidung muss von Sportlern oder Trainern anhand ihrer Ziele, Erfahrungen und Überzeugungen gefällt werden.

Wie häufig sollte man trainieren, um erste Effekte zu spüren?

Zu empfehlen sind zwei bis drei Sporteinheiten à 45 Minuten pro Woche. Man kann aber auch mit kürzeren Einheiten beginnen und langsam steigern. Erfahrungsgemäß bemerken Untrainierte bereits nach wenigen Trainingseinheiten (ca. 3–5) eine körperliche Anpassung und somit erhöhte Leistungsfähigkeit während des Sports oder kürzere Regenerationszeiten danach. Bei Trainierten ist dieser Effekt naturgemäß geringer und weniger gut spürbar. Positive Auswirkungen auf die Migräne konnten in Studien am ehesten nach ca. 10–12 Wochen festgestellt werden.

Warum ist es so wichtig, bei Migräne frühzeitig einen Arzt aufzusuchen?

Migränepatienten sollten sich gut mit ihrer eigenen Erkrankung auskennen. Häufig besteht Unsicherheit über den richtigen Einnahmezeitpunkt eines Schmerzmittels oder Triptans sowie die Dosierung. Wird zu häufig ein Akutmedikament eingenommen (an zehn oder mehr Tagen im Monat), kann sich die Migräne tatsächlich verschlechtern, es droht ein Kopfschmerz durch Medikamentenübergebrauch. Die Akutbehandlung kann im Rahmen eines Arztbesuches erläutert werden. Viele Patienten wissen nicht um die Möglichkeiten einer prophylaktischen Behandlung mit nichtmedikamentösen Verfahren oder um die gute Wirksamkeit von Ausdauersport, Entspannungsverfahren oder verhaltenspsychologischen Therapieansätzen. Auch die Möglichkeiten der medikamentösen Prophylaxe sind mittlerweile sehr gut. All dies spricht dafür, das Behandlungsangebot auch tatsächlich für sich positiv in Anspruch zu nehmen.

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