Stabi-Training als Gift bei Rückenschmerzen – Interview mit Dr. Dr. Homayun Gharavi Nils Borgstedt

Stabi-Training als Gift bei Rückenschmerzen – Interview mit Dr. Dr. Homayun Gharavi

Im Rahmen des FIBO-Symposiums der Deutschen Akademie für Angewandte Sportmedizin (DAASM) hat DAASM-Präsident Dr. Dr. Homayun Gharavi einen Vortrag mit dem Titel Techniken der Fasziendehnung – die Rumpfkräftigung als Gift bei Rückenschmerzen. Im Interview erklärt er, was hinter dieser Überschrift steckt.
netzathleten.de: Auf der FIBO hast Du einen Vortrag gehalten, mit der steilen These Stabi-Training beziehungsweise Rumpftraining als Gift bei Rückenschmerzen. Wie kommst Du zu dieser Aussage?
Dr. Dr. Homayun Gharavi: Das Stabi-Training vermittelt dem Körper beziehungsweise den Muskeln im Grunde, dass die Kontraktion ein Normalzustand ist. Es gibt zwei Arten Stabi-Training. Das klassische Stabi-Training ist das isometrische, bei dem man nur eine Position hält. In meinen Augen macht das allerdings keinen Sinn, da der Muskel dadurch seiner natürlichen Funktion beraubt wird. Diese besteht ja in passiver Dehnung und Kontraktion.

Das andere ist konzentrisches Stabi-Training oder Rumpftraining. Beim konzentrischen Stabi-Training kommt es zwar zu einer Kontraktion der Muskulatur, in deren Folge geht der Körper aber immer eher in eine „Verkürzung“, gerade im Rumpf. Brustmuskeln, seitliche Bauchmuskeln, Bauchmuskeln, Rückenmuskeln und so weiter, werden dabei derart in die Kontraktion gezogen, dass der Körper das für den Normalzustand hält. Das lässt sich zwar wieder aufdehnen, aber der Körper fühlt sich am normalsten, wenn er ein bisschen „gecruncht“ ist. Auch beim konzentrischen Training wird der Muskel nicht komplett gedehnt. Das ist aber die Voraussetzung, um sinnvoll Kraft aufzubauen. Man muss in die totale Dehnung gehen und kann den Muskel erst dann vollständig kontrahieren.

Sieht man sich die Leute an, die viel konzentrisches Stabi-Training betreiben, erkennt man deutlich Probleme an der Haltung. Im Sprachgebrauch von Ärzten und Physiotherapeuten werden diese häufig mit verkürzter Muskulatur beschrieben.
Zudem lege ich das Faszienmodell zugrunde. Es gibt inzwischen immer mehr Hinweise darauf, dass Rumpfkrafttraining zu verkürzten Faszien führt. Dadurch wird einem im oberen Körperdrittel „Leine“ genommen, man verspürt etwa mehr Spannung an der Schulter. Weil das so ist, dehnen viele die Schulterpartie, kräftigen aber weiter den Rumpf. Dreht man das Ganze aber nun um, dehnt also den Rumpf und trainiert die Schulter, dann feiert man in den meisten Fällen auch einen Erfolg in Bezug auf Beweglichkeit und beispielsweise bei Rückenproblemen.

netzathleten.de: Ist nicht eine stabile Rumpfmuskulatur die Voraussetzung für korrekte Bewegung?
Dr. Dr. Homayun Gharavi: Nein, ist sie nicht, sie ist kontraproduktiv. Stabilität bedeutet: du bist fest, wie ein Bambusstab. In der Folge schaltest du aber die Beweglichkeit im unteren Rücken aus. Das heißt der Rest des Körpers muss dafür aufkommen. Und dann geht der Teufelskreis los und man kriegt Probleme entweder im Leistenbereich oder im Brustwirbelbereich und in der Schulter. Was  man braucht, und man sollte Stabilität auch durch dieses Wort ersetzen, ist Kontrolle. Bewegungskontrolle ist viel wichtiger und ist im Grunde der einzige Weg. Man möchte die Bewegung und Haltung ja kontrollieren.

Wenn wir von Haltung sprechen, dann ist das auch kein starres Stehen, sondern die Haltung beim Gehen oder beim Sitzen. Das Bewegungssystem muss vielseitig sein und es muss flexibel sein. Darum geht es. Stabilität ist meinen Augen wirklich Gift und die Rumpfkräftigung ist nur sekundär gut. An erster Stelle steht immer die Beweglichkeit, also das Aufdehnen der Faszie. Aus diesem Zustand kann man dann Kraft holen, aber immer nur so viel, wie man wirklich benötigt. Alles andere braucht man nicht. In der Beschleunigung, also Bewegung, muss die ganze Kette auf einander abgestimmt sein.

netzathleten.de: Stabi-Training macht also auch keinen Sinn, weil das neuronale Zusammenspiel nicht geschult wird?
Dr. Dr. Homayun Gharavi: Genau. Stabi-Training macht dann keinen Sinn, wenn man sagt: Ok, du hast Leistenschmerzen also muss der Bauch trainiert werden oder der untere Rücken tut weh, also muss der Rücken trainiert werden oder Rumpftraining absolviert werden. Man muss in erster Linie gucken, wie es um die Beweglichkeit bestellt ist. Kommt der Sportler mit den Fersen auf dem Boden in die tiefe Hocke, wie weit kommt er bei durchgedrückten Knien mit den Handflächen zum Boden? Was bedeutet ein kleiner Ausfallschritt für die Rotation des Oberkörpers? Die Übungen in unserem Dehnprotokoll nutzen wir im Grunde als diagnostisches Mittel. Und hier setzen wir an. Wenn sich die Beweglichkeit verbessert hat – sie muss nicht perfekt sein –, dann kann man im zweiten Schritt ein Krafttraining entwickeln.

netzathleten.de: Und wie würde sich dann ein „Zweitschritt-Krafttraining“ gestalten?
Dr. Dr. Homayun Gharavi: Das hängt natürlich stark davon ab, was ich erreichen möchte. Für welchen Sport ist es gedacht? In welche Richtung soll es gehen – Maximalkraft? Schnellkraft? Kraftausdauer? Man muss auch nicht immer mit Vollgas trainieren. Es gibt eine interessante Veröffentlichung, die gezeigt hat, dass ein Training mit 30 Prozent der Maximalkraft im Bezug auf die Faserrekrutierung die gleiche Wirkung zeigt, wie eines mit 80 bis 90 Prozent. Bei einem Training mit 50 Prozent der Maximalkraft hat sich das aber nicht nachweisen lassen. Für mich ist das ein Indiz, dass Krafttraining nicht immer auf 100 Prozent gepolt sein muss. Auch bei den Methoden, ob jetzt Mehrsatztraining, IK-Training oder HIIT, komme ich immer mehr zu dem Schluss, dass sie sehr unterschiedlich sein sollten, um das Training aufzulockern. Eines ist aber zu jeder Zeit zentral: Bewegung und Funktionalität kommen immer vor der Kraft.

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