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Workout-Bulimie - Gewogen und für zu leicht befunden

  • Redaktion
Sport tut dem Körper gut. Es ist erwiesen, dass sportliche Menschen attraktiver wirken und zudem im Alltag selbstbewusster, konzentrierter und belastbarer sind als der Durchschnitt. Allesamt positive Aspekte - sofern man weiß, wann es des Guten zu viel wird. Andernfalls droht eine Workout-Bulimie.

Wer würde den folgenden Aussagen schon widersprechen? Sport ist gesund. Wer viel Sport treibt, nimmt ab. Beides ist an sich richtig, und doch kann zweimal Plus in gewissen Fällen auch Minus ergeben. Wenn man nämlich sowohl beim Sport treiben als auch beim Wunsch abzunehmen übertreibt, kann das krankhaft werden. Im Extremfall droht entweder die so genannte Sport-Bulimie. Dabei werden Essanfälle durch exzessiven Sport kompensiert. Oder man bekommt Sport-Anorexie: Man versucht, durch intensiven Sport das Körpergewicht bzw. den Körperfettanteil zu reduzieren. Das Gefährliche dabei: Die Betroffenen sind sich meistens gar nicht bewusst, wie es um sie steht.

Auf der Suche nach dem Ich: (Selbst-)Definierung über Leistung

In unserer modernen Gesellschaft zählen häufig nur Erfolge. Der Sport ist ein Gebiet, auf dem Erfolge schnell sichtbar werden. Wer immer größere Gewichte stemmt, wird irgendwann einen Zuwachs an Muskelmasse verzeichnen. Wer richtig trainiert, wird irgendwann eine neue persönliche Bestleistung erlaufen, erspringen, ersprinten. Wenn man erfolgreich ist, fühlt man sich nicht nur selber aufgewertet, sondern erhält auch Zuspruch von Außenstehenden.


Zu hoch, zu schnell, zu weit?


Irgendwann stößt man jedoch an seine persönlichen Grenzen. Um weiterhin Erfolge zu feiern, muss man neue Wege gehen. In gewissen Disziplinen, wie dem Langstreckenlauf oder Skispringen, kann man noch Leistung rauskitzeln, indem man überflüssige Pfunde loswird. Doch nicht nur in diesen Sportarten sind die Athleten besonders anfällig, möglichst schnell und viel abnehmen zu wollen. Auch in den Disziplinen, in denen Gewichtslimits eingehalten werden müssen (u. a. Boxen, Ringen, Bodybuilding), steht die Waage oft im Zentrum des Trainingsalltags. Das gilt außerdem für Sportarten, in denen Schlanksein zur Ästhetik des Sports gehört und entsprechend honoriert wird (z.B. die Rhythmische Sportgymnastik). Und hier ist beileibe nicht nur der Profibereich gemeint. Auch Amateure investieren mittlerweile immer mehr, um sich in ihrer Disziplin weiter zu verbessern.

„Sportanorektiker hungern, um ihre Leistung zu steigern. Die Gewichtsabnahme ist also zielgerichtet, z.B. um bei einem Marathon eine persönliche Bestzeit zu laufen. Gefährdet sind vor allem Frauen, Kinder und Jugendliche, aber auch Männer trainieren sich krank“, sagt Diplom- Psychologe Klaus Oelbracht von der Christoph-Dornier-Klinik für Psychotherapie in Münster. „Die Betroffenen haben vor allem sportliche Motive. Es geht ihnen darum, die eigene Leistungsfähigkeit durch Verringerung des Körperfettanteils zu verbessern.“

Bei ihnen hat sich zum einen der Sport bereits zu einer Art Zwang entwickelt. Auf der Suche nach der persönlichen Höchstleistung steigern sie ihre Trainingshäufigkeit und -intensität teilweise über das vernünftige Maß hinaus. Mehrere Stunden Sport am Tag sind keine Seltenheit. Zum anderen glauben sie, dass jede Mahlzeit ihrem Ziel, der Gewichtsreduktion, eigentlich zuwiderläuft. In der Folge wird das Sportpensum also noch einmal erhöht und zusätzlich wird noch weniger gegessen.


Gesundheitliche Risiken


„Besonders anfällig sind Menschen, die über sportliche Erfolge Defizite in anderen Lebensbereichen bzw. ein schwaches Selbstwertgefühl kompensieren wollen. Häufig beginnt die Problematik in schwierigen Lebensphasen, etwa der Pubertät“, erläutert Oelbracht. Gerade in diesem Alter sind die gesundheitlichen Risiken gravierend: „Wachstum, Geschlechtsentwicklung und Knochenbildung können verzögert oder verringert sein. Es kann sogar zum Wachstumsstopp kommen.“ Aber auch ausgewachsene Menschen haben Schlimmes zu befürchten: Die Palette reicht von Schwankungen im Elektrolythaushalt über Herzrhythmusstörungen bis hin zum Herzstillstand. Weiterhin steigt das Osteoporoserisiko und es kann vermehrt zu Stressfrakturen kommen. Auch Depressionen sind eine häufige Folge.

Biologisches Notfallprogramm


Ein großes Problem ist die Meinung der Betroffenen. Sie glauben, sie würden ihrem Körper durch das Hungern und zusätzliche Sporteinheiten etwas Gutes tun. Langfristig ist das Gegenteil der Fall. „Durch das vermehrte Training tritt trotz der mangelnden Energiezufuhr zunächst eine Leistungssteigerung ein. Körperliche Schäden treten erst später auf“, erläutert Diplom-Psychologe Oelbracht.

Dies führt auch dazu, dass die Betroffenen immer mehr in eine Abwärtsspirale geraten. Warum sollte man auch mit dem Sport aufhören, wenn es zudem noch zu den begehrten Flow-Erlebnissen kommt? Das Trügerische dabei: Die gelegentliche Endorphinausschüttung ist einer weit verbreiteten – und leider noch nicht eindeutig belegten – Theorie zufolge kein positives Signal des Körpers, sondern vielmehr ein „biologisches Notfallprogramm“ aus der Steinzeit: Der Körper befindet sich durch den Energiemangel in Hochstress. Entsprechende Hormone werden ausgeschüttet, um die letzten Energie-Reserven auf der Suche nach etwas Essbarem zu mobilisieren.


Familie und Umfeld


Ebenso verspätet – wenn überhaupt – merken die Betroffenen selbst, wie es um sie steht. Zu diesem Zeitpunkt sollten in ihrem Umfeld bereits die Alarmglocken schrillen. „Wenn Menschen ihre sozialen Kontakte stark vernachlässigen oder Termine absagen, um exzessiv Sport zu treiben, sollte das Umfeld reagieren und denjenigen darauf ansprechen. Sie sollten sich nicht scheuen, ihre Sorgen deutlich zu machen und ihm vermitteln, dass es Hilfe gibt“, erläutert Klaus Oelbracht.

Therapiemaßnahmen


Eine Workout-Bulimie bzw. „anorexia athletica“ ist gut behandelbar. Unter Anleitung der Therapeuten erarbeiten sich die Patienten wieder ein natürliches und angemessenes Verhältnis zu Essen und Sport. Außerdem werden ihnen alternative Lösungsstrategien für Defizite und Probleme in anderen Lebensbereichen aufgezeigt. Weiterhin werden extreme Leistungsansprüche an sich selbst in Frage gestellt. Trotz anfänglicher Rückschläge, meist in den ersten Monaten nach der Therapie, können viele ihre Essstörung überwinden.

Marco Heibel

Experte: Diplom-Psychologe Klaus Oelbracht, Christoph-Dornier-Klinik für Psychotherapie, www.c-d-k.de

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