Spiel mit dem Feuer (1) – Interview mit Fanforscher Dr. Martin Thein picture alliance

Spiel mit dem Feuer (1) – Interview mit Fanforscher Dr. Martin Thein

  • Derk Hoberg
Die Situation ist festgefahren, die schöne heile Fußballwelt in Deutschland droht derzeit zu zerfallen. Diesen Eindruck könnte man zumindest bekommen, verfolgt man die Medienberichte rund um den Einsatz von Pyrotechnik im Stadion und die angeblich zunehmende Gewalt in und um die deutschen Arenen herum. Steht Fußballdeutschland also vor einem gravierenden Wandel? netzathleten sprach mit Fanforscher und Buchautor Dr. Martin Thein von FANKULTUR.COM darüber, wie die momentane Situation zu bewerten ist und ob, wie so häufig behauptet, Ultra-Gruppierungen dafür verantwortlich sind.

 

netzathleten: Herr Dr. Thein, die Diskussionen über Pyrotechnik und Gewalt kochen derzeit über in den Medien. Auslöser sind die zunehmenden Krawalle und Pyro-Aktionen in und um deutsche Stadien. Wie kam es überhaupt dazu?

Dr. Martin Thein: Über die Gründe für die Ausschreitungen beim Pokalspiel Dresden gegen Dortmund lässt sich von außen kaum eine Einschätzung abgeben und wir möchten uns an Spekulationen nicht beteiligen. Die Zunahme der Anwendung von Pyrotechnik dürfte in einem großen Teil auf die abgebrochenen Gespräche zwischen den Verbänden und der Kampagne „Pyrotechnik legalisieren! Emotionen respektieren“ zurückzuführen sein. Die Kampagne aus einem Zusammenschluss von einem großen Teil der deutschen Ultra-Gruppierungen entstanden, die gemeinsam für die Legalisierung der Pyrotechnik kämpfen. Aus Sicht der Ultras ist Pyrotechnik ein wichtiger Bestandteil ihrer Fankultur, ja sie ist geradezu identitätsstiftend. Nachdem die Gespräche darüber von Verbandsseite abgebrochen wurden, ist die momentane Zunahme von Pyrotechnik in den Stadien gewissermaßen die Reaktion auf den Abbruch dieser Verhandlungen.

netzathleten: Also trifft die Verbände, DFB und DFL, die Schuld an der derzeitigen Situation?

Dr. Martin Thein: Die Verbände müssen zumindest ihr Vorgehen kritisch hinterfragen und evaluieren. Im Verlaufe des Jahres 2011 haben Sie mit der Kampagne „Pyrotechnik legalisieren! Emotionen respektieren!“ Gespräche über eine Legalisierung von Pyrotechnik geführt. Man hat den Fans damit nicht nur den Eindruck vermittelt, dass man zu Gesprächen bereit wäre, man hat sie sogar geführt. Damit auch die Hoffnung genährt, zu an einer für beide Seiten akzeptablen Lösung interessiert zu sein. Daraufhin erklärten sich die Fans bereit, zu Beginn der Saison auf Pyrotechnik zu verzichten. Nach den Ereignissen von Dortmund und Frankfurt haben die Verbände nun in einer Pressemitteilung mitgeteilt, dass eine Legalisierung nie zur Debatte stand, da beispielsweise der Gesetzgeber eine solche gar nicht ermöglicht. Nach unserer Einschätzung hätte man dies auf einem Treffen mit der Kampagne erörtern sollen, um die Gespräche mit den Gruppen nicht abreißen zu lassen. Nun fühlen sich viele Gruppen vor den Kopf gestoßen.

netzathleten: Bei der Anzahl an Beteiligten – Verbände, staatliche Organe wie die Polizei und heterogene Fangruppen auf der anderen Seite – ist es doch ohnehin schwierig, einen eindeutig Schuldigen auszumachen, oder?

Dr. Martin Thein: Sie sagen es. Dies geht in der öffentlichen Diskussion der vergangenen zwei Wochen leider häufig verloren. Es ist wichtig damit aufzuhören, sich gegenseitig den Schwarzen Peter zuzuschieben. Das Wichtigste hierbei ist die Kommunikation, Kommunikation und nochmals Kommunikation. Ich kann es nicht oft genug herausstellen. Es wäre also wünschenswert, wenn die Verbände wieder auf die Ultras zugingen.

netzathleten: Doch auch die Ultras wissen, dass Pyrotechnik gefährlich sein kann, oder nicht?

Dr. Martin Thein: Sie negieren die Gefahr letztlich auch nicht. Genau deshalb fordern sie, ein „geordnetes Abrennen“ von bengalischen Feuern. Eines muss man herausstellen: Es geht in der Kampagne nicht darum, Pyrotechnik so wie bisher – scheinbar wild – im Block zu zünden, sondern einen gemeinsamen ungefährlicheren Weg zu finden.

netzathleten: Wer garantiert denn, dass, wenn das Abbrennen von Pyrotechnik in einem bestimmten Bereich erlaubt ist, niemand mehr ausschert?

Dr. Martin Thein: Niemand kann dies absolut sicher garantieren. Allerdings dürften Selbstregulierungsprozesse innerhalb der Kurven steigen, da die Ultras ein großes Interesse haben dürften, sich die Chance nicht kaputt machen zu lassen.

netzathleten: Momentan ist häufig die Rede davon, dieser Problematik nicht zu viel Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zu widmen. Kann das der richtige Weg sein?

Dr. Martin Thein: Dieser Meinung bin ich ebenfalls, ja. Den medialen Hype um dieses Thema sehen wir skeptisch. Es wird dadurch der Eindruck vermittelt, als sei der Besuch von Fußballspielen gefährlich. Dies ist mitnichten so. Die Zahl der Vorfälle ist in Relation zur Anzahl an Spielen und Zuschauern erdenklich gering. In keiner Weise dürfen Gewalt und Verletzte verharmlost werden, aber momentan schießt man mit Kanonen auf Spatzen. Da würde ich mir einfach etwas mehr Zurückhaltung aller Beteiligten im Sinne einer sachorientierten Analyse der Geschehnisse und deren Folgen wünschen.

netzathleten: Nun scheint aber derzeit nicht nur die Pyrotechnik zuzunehmen, sondern auch die Gewalt um die Stadien herum. Beispiele hierfür gab es in letzter Zeit doch zur Genüge.

Dr. Martin Thein: Gewalt ist nicht gleich Pyrotechnik. Das wird leider viel zu oft miteinander vermischt, man nennt es oft im gleichen Atemzug. Das ist schlichtweg falsch. Auch hier darf eine Relativierung von Gewalt nicht erfolgen. Aber in der Diskussion ist Vorsicht geboten. Vielleicht verbindet man das von Medienseite auch, um gezielt den Eindruck zu erwecken, dass Fußballspiele gefährlich sind. Letztendlich sind diese beiden Themen aber nicht vergleich- oder vermischbar.

netzathleten: Sind aber nicht genau in diesem Umfeld der Ultras, die die Pyrotechnik verwenden, auch gewaltbereitere Fans anzutreffen?

Dr. Martin Thein: Unstrittig sind im Umfeld von Ultragruppierungen häufig auch gewaltaffine Personen zu finden. Im Umfeld der Ultras in Deutschland gibt es jedoch auch Trittbrettfahrer, die aus einem gewaltbereiteren Milieu kommen, die nicht Mitglieder der Ultras sind. Nur sollte man dies nicht generalisiert auf Ultras übertragen. Da muss man jeden einzelnen Fall sorgsam betrachten. Momentan wird von den Medien aber pauschal der Eindruck erweckt, Ultras verfolgen lediglich gewalttätige Ziele. Ultras sorgen jedoch vielmehr für Stimmung im Stadion oder organisieren die Choreographien, über die wir uns alle regelmäßig freuen. Eine einseitige Kriminalisierung ist der falsche Weg.

netzathleten: Es scheint, als ob derzeit eine Machtprobe stattfindet, zwischen den Ultras und dem Rest der Fußballwelt.

Dr. Martin Thein: Ich glaube, es ist momentan noch zu früh, um das hinreichend bewerten zu können. Derzeit sind die Ultras vor allem enttäuscht über den Verlauf der Gespräche, und diese Enttäuschung bringen sie jetzt mit dem vermehrten Einsatz von Pyrotechnik zum Ausdruck. Mit Sicherheit auch, um zu zeigen: „Wenn Ihr Pyrotechnik weiterhin verbieten wollt, dann zeigen wir Euch, dass Ihr das nicht schafft!“.

netzathleten: Hätte man nicht früher reagieren müssen? Erfahrungen mit italienischen Ultragruppierungen gibt es schon lange. Dort gibt es in einigen Gruppierungen rechte Tendenzen, Gewalt war dort auch immer ein Thema. War das nicht blauäugig, den deutschen Ultras bei ihrer „Formierung“ einfach nur zuzuschauen?

Dr. Martin Thein: Die heutigen deutschen Ultras kann man nicht mit den italienischen Ultragruppierungen vergleichen. Zutreffend ist sicherlich, dass man sich häufig nicht genug mit dem „Phänomen Ultras“ beschäftigt hat. Vielfach hat man Ultras in ihrer Entstehungsphase wie Hooligans behandelt, weil häufig das Verständnis für deren Ziele fehlte. Deshalb ist es in Situationen wie der aktuellen sehr wichtig, sich differenziert mit Ultras auseinanderzusetzen. Nur so kann es gelingen, Gewalttäter in ihren Reihen oder dem Umfeld zu erkennen. Entscheidend ist dabei jedoch eine Einbindung der Gruppen, um auch etwaige Selbstregulierungsprozesse zu fördern. Dafür wäre eine Einladung zum „Runden Tisch“ am kommenden Wochenende sicherlich ein guter Schritt gewesen.

netzathleten: Würden Ultras daran überhaupt teilnehmen? Problematisch ist doch die Tatsache, dass Ultras eigentlich überhaupt keinen Kontakt zu Offiziellen – sei es zu Verein, Verband oder Behörde – suchen, diesen Kontakt sogar bewusst vermeiden.

Dr. Martin Thein: Letztendlich haben die Ultras häufig Kontakte zu ihren Vereinen. Und das es keine Gespräche zwischen Verbänden und Ultras geben kann, wurde ja durch die Kampagne für die Legalisierung von Pyrotechnik widerlegt: Dort saßen sie mit den Verbänden an einem Tisch. Sie jetzt gar nicht mehr einzubinden wäre der größte Fehler.

netzathleten: Hartes Durchgreifen kann also keine Lösung sein?

Dr. Martin Thein: Repression ist oft der falsche Weg, da sie keine nachhaltigen Antworten auf komplexe soziale Entwicklungen entfalten kann. Man muss ausgewogen handeln. Momentan steckt man Gewaltbereite und Ultras im Allgemeinen einfach in einem Topf. Alle Skeptiker – die gegen Gespräche mit Vereinen und Verbänden sind, da sie davon nichts erwarten – werden nun in ihrer Position gestärkt. So besteht die Gefahr, mögliche Feindbilder, wie Verbände und Polizei, durch Verbote und repressives Vorgehen noch weiter zu stärken. Daher bezweifele ich, dass ein rein staatliches Vorgehen – ohne Gespräche miteinander – das Richtige ist.

netzathleten: Noch einmal anders herum gefragt: Aufgrund welcher positiven Eigenschaften sollte man Ultragruppierungen gegenüber mit Bedacht vorgehen?

Dr. Martin Thein: Aus soziologischer Sicht sind die Ultras momentan sicherlich die interessanteste und bunteste Jugendgruppierung hierzulande. Man darf Ultras eben auch nicht nur im Kontext des Stadionbesuchs sehen, sondern auch ihre sozialintegrative Funktion an den sechs anderen Tagen in der Woche. Ultra ist man immer, man trifft sich untereinander, findet seine Freunde in diesem Umfeld, die Gruppen haben eigene Räumlichkeiten usw. Da werden letztlich auch Funktionen in der Sozialisierung wahrgenommen, die man nicht nur negativ sehen sollte. Daher tun wir uns schwer damit, wenn Ultras pauschal verteufelt werden.

netzathleten: Allerdings erfolgt diese Sozialisation ja auch nach ganz eigenen Regeln, in die doch jeglicher Einblick fehlt...

Dr. Martin Thein: Das ist sicherlich richtig, jedoch ist das bei vielen Peergroups so. Dennoch, je mehr man die Ultras kriminalisiert, umso interessanter werden sie auch wieder für junge Leute. In die Entwicklung junger Menschen gehört abweichendes und manchmal auch provokantes Verhalten bis zu einem gewissen Grad dazu. Oft kokettieren Jugendliche auch damit. Umso mehr Ultras negativ dargestellt werden, desto interessanter könnten sie für Jugendliche mit Gewaltaffinität werden.

netzathleten: Welche Konsequenzen erwarten Sie und Ihr Kollege Jannis Linkelmann, mit dem Sie gemeinsam auch ein Buch über die Nürnberger Ultras geschrieben haben, für den Fußball und das Drumherum hierzulande?
Dr. Martin Thein: Wir nehmen an, dass sehr interessante Wochen auf uns zukommen werden. Einiges an drastischen Maßnahmen steht im Raum, sei es der Pokalausschluss Dresdens im nächsten Jahr, oder aber das Verbot von Auswärtsfahrten für Fans. Wir hoffen jedoch sehr, dass von allen Beteiligten bedächtig gehandelt und kein weiteres Öl ins Feuer gegossen wird. Alle Beteiligten wollen doch bunte und stimmungsvolle Fußballspiele .Und das wird nur funktionieren, wenn alle Parteien gesprächsbereit bleiben und versuchen, einen Kompromiss zu finden.

netzathleten: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Dr. Thein!

Im zweiten Teil von "Spiel mit dem Feuer" sprechen wir mit dem ehemaligen Fußballprofi Christoph Preuß über die Thematik. Hier geht es zum dritten Teil, einem Interview mit einem Fan aus Sachsen.

Zur Person:

Martin Thein, Dr. phil, wurde 1966 in Bamberg geboren. Nach seinem Studium der Politikwissenschaften, Psychologie und Rechtswissenschaften (M.A.), fertigte er seine Dissertation zum Thema “Wettlauf mit dem Zeitgeist. Der Neonazismus im Wandel. Eine Feldstudie“ an. Seit geraumer Zeit liegt sein Schwerpunkt auf der Erforschung der deutschen Fußballfankultur. Hierzu verfasste er gemeinsam mit Jannis Linkelmann das Buch: "Alles für den Club!" Eine Feldstudie zu den "Ultras Nürnberg 1994", welches im August 2011 erschienen ist.

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