Marcel Desailly: Deschamps hat die Qual der Wahl gettyimages.de (beide Fotos)

Marcel Desailly: Deschamps hat die Qual der Wahl

Welt- und Europameister Marcel Desailly spricht zum EM-Start über die Stärken und die Turnier-Chancen der französischen Nationalmannschaft, die er einst in 50 Spielen als Kapitän auf den Platz führte.
Marcel DesaillyMarcel Desailly bei der WM 1998netzathleten.de: Marcel, Frankreich gehört zum Kreis der Favoriten bei der EM. Sie selbst wurden mit der Equipe Tricolore Welt- und Europameister. Was unterscheidet die aktuelle Mannschaft von Ihrer Generation damals?
Marcel Desailly: Die aktuelle Mannschaft ist technisch viel besser ausgebildet. Wenn man aus unserer Mannschaft von damals Zidane herausnimmt und die beiden Teams dann vergleicht, wird dieser Unterschied doch sehr deutlich. Das Einzige, was ich heute vermisse, sind die Führungsspieler. Nur wenige der aktuellen Spieler füllen in ihren Vereinen Führungsrollen aus, vielleicht mit Ausnahme von Pogba bei Juventus. Dennoch liegt die Hoffnung Frankreichs natürlich auf dieser Generation.

netzathleten.de: Sind Sie angesichts der vielen aktuellen Talente in der französischen Nationalmannschaft ein wenig überrascht?
Marcel Desailly: Überrascht nicht, aber natürlich freuen wir uns in Frankreich über diese spannende Generation von Spielern. Bei der Menge an guten Spielern hat Didier Deschamps die Qual der Wahl, ist taktisch aber auch ungemein flexibel. Und wir freuen uns, dass wir nach dem Skandal um Anelka und Domenech bei der WM 2010 endlich wieder eine Mannschaft haben, die als Team auftritt. Wie wichtig das ist, hat Deutschland bei der WM in Brasilien gezeigt.

netzathleten.de: Aus deutscher Sicht interessiert uns natürlich Ihre Meinung zum Fall Ribery. Könnte er nicht ein solcher Führungsspieler sein?
Marcel Desailly: Wissen Sie, ich glaube Franck Ribery hätte schon Interesse gehabt, bei der EM aufzulaufen. Ich denke aber auch, dass er sich schon bewusst war, dass Coach Didier Deschamps ihn nicht berücksichtigen würde. Auch, weil er sich aus dem Team zurückgezogen hat und seither ein erfolgreicher Neuaufbau der Mannschaft stattfand. Ich freue mich für ihn, dass er nach seiner Verletzung wieder bei den Bayern gespielt hat, aber nach einer solchen Verletzung kommt man zunächst stark zurück, fällt dann aber meist nochmal in ein Leistungsloch. Und das wäre womöglich genau zu der Zeit, in der die EM stattfindet.

netzathleten.de: Wie ist Ihre Einschätzung zu Kingsley Coman?
Marcel Desailly: Da komme ich ins Schwärmen. Kingsley ist eine Waffe. Auch wenn er noch sehr jung ist, die Power, die er bei den Bayern und auch in den letzten Länderspielen gezeigt hat, ist doch beeindruckend. Aber ich denke nicht, dass er bei der EM zur ersten Elf gehören wird, da Deschamps zahlreiche gute Alternativen im Mittelfeld hat. Wenn er aber eingewechselt wird, kann er mit seiner Dynamik vielleicht den Unterschied machen.

netzathleten.de: Seit der EM 1984 in Frankreich gelang es keiner Nationalmannschaft mehr, den Europameister-Titel im eigenen Land zu gewinnen. Gibt es den Heimvorteil bei solchen Turnieren überhaupt noch?
Marcel Desailly: Das ist schwer zu sagen. Die Spieler sollten eigentlich an solchen Druck gewöhnt sein, sie spielen alle in großen Clubs und auch ständig international. Ich erinnere mich aber, als wir die WM vor 18 Jahren in Frankreich spielten. Auch ich war an schwierige Situationen gewöhnt, aber mit dem Druck bei der WM im eigenen Land umzugehen, war immens schwer. Das hatte großen Einfluss auf unsere spielerischen Möglichkeiten und das hat man besonders in den Spielen gegen Kroatien und Italien gesehen. Aber auch wir haben den Titel letztlich geholt. Ich denke deshalb, dass wir die besten Chancen haben, den Titel zu holen. Die Spieler müssen einfach versuchen, mit Freude an die Sache zu gehen. Auch, um den Menschen in Frankreich Freude und Hoffnung zu bringen in diesen schwierigen Zeiten.

Das Interview wurde im Rahmen der Laureus World Sport Awards 2016 in Berlin geführt.

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